Malice - Du entkommst ihm nicht
zu sehen war.
Wenn sie nicht so gespannt auf das gewesen wären, was sie am Ende dieses Korridors erwartete, wären sie sicher stehen geblieben, um die Wandmalereien genauer zu betrachten, aber so gingen sie rasch weiter. Nach einer Weile gelangten sie an ein hohes sechseckiges Portal, hinter dem ein grünes Licht schimmerte.
»Das wurde aber auch Zeit.« Justin wollte gerade darauf zulaufen, als Kady ihn am Arm festhielt.
»Warte!« Sie reckte die Nase in die Luft und schnupperte.
Jetzt bemerkten es die anderen auch. Es roch süßlich abgestanden nach Schimmel und Verwesung, als würde dort hinten etwas liegen, was schon lange tot war.
»Sei vorsichtig«, flüsterte Kady und ließ Justin wieder los.
»Alles klar«, murmelte er.
Was sie hinter dem Portal erwartete, war schöner und zugleich entsetzlicher als alles, was sie bis dahin gesehen hatten.
Es war sehr kalt in dem Saal, kälter noch als in den Gängen der Oubliette. Ihr Atem bildete kleine Dampfwölkchen in der Luft. Ein sanftes Wispern wie von unzähligen raunenden Stimmen erfüllte den Raum.
Die drei sahen sich staunend um. Sie befanden sich ohne Zweifel an einem heiligen Or t – in einer Art Tempe l –, doch irgendjemand hatte ihn brutal entweiht. Überall lagen funkelnde Splitter und Scherben herum. Die meisten der filigranen Säulen aus violettem und schwarzem Glas, die sich spiralförmig in die Höhe schraubten, waren zerschmettert worden. Der grün schimmernde, spiegelglatte Boden war mit den zertrümmerten Überresten von Statuen übersät, die sicher einmal die kunstvoll in den Fels gehauenen Nischen geschmückt hatten.
Das Einzige, was die Zerstörungswut offenbar unbeschadet überlebt hatte, war die lebensgroße Statue einer Frau, die einen schwarz glänzenden Bogen in den Händen hielt. Sie stand in der Mitte des Saals auf einem sechseckigen Podest und richtete den gespannten Bogen in Richtung Decke, als würde sie auf etwas zielen, was sich über ihr befand.
Aus einer Art Altar aus tiefschwarzem Rauchglas, der sich vor dem Podest befand, wuchs ein versteinertes Bäumchen, an dessen leblosen Ästen winzige silberne Glöckchen hingen.
Das Licht, das sie schon vom Korridor aus bemerkt hatten, schien aus den Wänden und dem Boden zu kommen und tauchte die um das Podest herumliegenden Leichen in ein gespenstisches grünes Licht. Es waren mehrere Dutzend Tote, die ganz offensichtlich keine Menschen gewesen waren.
»Wow«, flüsterte Kady. »Seht nur.«
Sie folgten ihrem ausgestreckten Zeigefinger und sahen nach oben. Statt einer Decke erstreckte sich hoch über ihren Köpfen ein von Dunkelheit erfüllter unendlicher Raum, in dem Abermillionen von Sternen glitzerten. Sie blickten auf milchige Nebel, farbenprächtige Wolken aus interstellarem Gas, ferne Galaxien und Sternenhaufe n – ein ganzes Universum, unendlich weit weg und zugleich so nah, als bräuchten sie nur auf eine der Säulen zu klettern, um es mit den Fingerspitzen berühren zu können.
»Wo sind wir hier?«, flüsterte Seth.
»Ich glaube, es ist eine Art Schrein«, sagte Kady. »Ich meine, es war einer. Keine Ahnung, was es jetzt ist.«
»Aber wer wurde hier verehrt?«
»Die da, schätze ich mal.« Justin zeigte auf die Statue.
Seth ließ den Rucksack von den Schultern gleiten, lehnte ihn an die Wand und kniete sich dann neben eine der Leichen. Bis auf ein paar Knochen und die Rüstung war nicht viel übrig geblieben. Der Verwesungsgeruch war unangenehm, aber nicht unerträglich.
»Hey!«, rief Kady plötzlich aufgeregt. »Die Toten sehen aus wi e …«
Seth nickte. »Die Statuen, die am Eingangsportal zur Oubliette stehen.«
Hier sahen sie nun also ihre Vorbilde r – oder zumindest das, was von ihnen übrig geblieben war. Die Rüstungen, die sie trugen, waren aus einem blauschwarzen Metall gefertigt und über und über mit spiralförmigen Symbolen verziert. An ihrer Form war zu erkennen, dass diese Wesen lange, schmale Schädel, einen schlanken Körper und muskulöse, pferdeartige Beine gehabt haben mussten. Neben ihnen lagen Hellebarden und kunstvoll geschnitzte Bögen und Pfeilköcher. Seth fragte sich, wie diese Geschöpfe wohl ausgesehen hatten, als sie noch am Leben gewesen waren.
»Hört ihr das?« Justin, der gerade auf die Statue zugegangen war, um sie näher zu betrachten, blieb stehen und legte den Kopf schräg. »Klingt, als würden sich hier irgendwo Leute unterhalten, findet ihr nicht?«
Kady ging um die Skelette herum auf ihn zu und hörte es auch:
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