Malice - Du entkommst ihm nicht
ein leises vielstimmiges Raunen. Es war unmöglich, einzelne Wörter zu unterscheiden, aber sie hatte das Gefühl, dass sie die Sprache ohnehin nicht verstanden hätte. Sie bekam eine Gänsehaut.
Aber da war noch etwas anderes, was sie beunruhigt e – eine verschwommene Erinnerung an irgendetwas, was sie nicht greifen konnte.
»Meint ihr, die Typen haben sich gegenseitig niedergemetzelt?«, fragte Justin.
»Glaub ich nicht.« Seth schüttelte den Kopf. »Die sehen aus, als wären sie zertrampelt worden. Die müssen von irgendeinem riesigen Wesen angegriffen worden sein.« Er kratzte sich am Kopf. »Ich schätze mal, dass sie gestorben sind, während sie versucht haben, den Schrein hier zu verteidigen. Wahrscheinlich waren sie Wächter. Deswegen standen ihre Statuen auch am Eingang.«
»Hm, kann sein«, sagte Justin und klang wenig überzeugt.
Kady stellte fest, dass die Frauenstatue in der Mitte des Saales nicht den allerkleinsten Kratzer abbekommen hatte. Sie schien aus einem hochglänzend polierten Halbedelstein, vielleicht Obsidian, gemeißelt worden zu sein, in dem sich merkwürdigerweise nichts widerspiegelte. Im Gegenteil schien der tiefschwarze Stein alles Licht und alle Wärme aus dem Raum zu saugen. Kady fühlte sich, als würde sie neben einem offenen Kühlschrank stehen.
Der Bogen, den die Statue in den Händen hielt, war nicht aus Stein, sondern aus einem dunklen Holz geschnitzt und kunstvoll mit einem Dornenmuster verziert. Vermutlich war er ihr nachträglich in die Hände gelegt worden.
Sie trug ein elegantes Jagdkostüm mit einem Umhang und war trotz der Strenge, die sie ausstrahlte, außergewöhnlich schön. Ihr Blick war wie der Pfeil des Bogens auf die Galaxien über ihr gerichtet.
Stern e … unterirdische Sterne.
In Kadys Erinnerung erklang eine verzweifelte Stimme. Und plötzlich wusste sie, wem sie gehörte: Henry Galesworth, dem Jungen, der lebend aus Malice entkommen war.
Die Frau will die Sterne abschießen!
Kady schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. Henry Galesworth war hier gewesen. Er war in der Oubliette gewesen und hatte überlebt.
Sie dachte fieberhaft nach. Was hatte er sonst noch gesagt? Irgendetwas über die Dunkelheit und darüber, dass sein Bruder aufgefressen worden wa r – zweifellos von den Schlingmolchen. Und dann hatte er noch gesagt, dass sie den Augen folgen sollten. Sie stutzte. Welchen Augen denn? Aber er hatte noch etwas gesagt. Was nur? Was?
Justin bückte sich und betrachtete die Glöckchen, die an den Ästen des versteinerten Baums hingen. Sie waren durchsichtig und zerbrechlich wie Eiszapfen. Vorsichtig berührte er eines davon mit dem Zeigefinger.
Die Glöckchen rufen die Bestie. Das war es, was Henry gesagt hatte. Die Glöckchen rufen die Bestie.
»Nicht anfassen!«, schrie Kady, aber ihre Warnung kam zu spät. Justin hatte das Glöckchen bereits mit dem Fingernagel angestupst. Ein helles, liebliches Läuten erklang.
»Warum denn nicht?« Justin trat stirnrunzelnd einen Schritt zurück.
Aber das Läuten verstummte nicht. Stattdessen erklangen auf einmal andere, höhere und tiefere Glockentöne, die sich vermischten und zu einem gewaltigen vibrierenden Akkord anschwollen, der von den Wänden widerhallte und die gläsernen Säulen erzittern ließ. Tatyana krümmte sich wie unter Schmerzen und die anderen hielten sich die Ohren zu, als der Ton immer lauter wurde und dan n … mit einem Mal aufhörte und verhallte.
Das Flüstern hatte aufgehört. Alles war ruhig.
Bis sie aus einem Bogengang am anderen Ende des Saals ein leises, dumpfes Knurren hörten. Das Knurren der Bestie, die sich ihnen näherte.
»Darum«, sagte Kady.
Folgt den Augen
1
»Seth! Seth!«
Er riss die Augen auf und schrie. Ein paar Sekunden lang wusste er nicht, wo er war. Sein Kopf schien mit einem eisig kalten, alles verschlingenden Vakuum gefüllt zu sein. In ihm waren nur Leere und Unendlichkeit und Hoffnungslosigkeit. Ihm war schrecklich kalt, so kalt, dass er am ganzen Körper zitterte und mit den Zähnen klapperte.
Im nächsten Moment erkannte er Kady, die vor ihm kniete und ihn wild an den Schultern schüttelte. Sie war verdreckt und sah erschöpft aus, die Haare hingen ihr verfilzt ums Gesicht, aber sie war lebendig. Leben! Seth streckte die Arme aus, klammerte sich an sie und drängte sich an ihren warmen Körper. Erst jetzt bemerkte er die dünne Eisschicht auf seiner Kleidung und seine blau gefrorenen Finger.
»Hier.«
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