Malina
fünfzig Kilo ab, sie zeigt sich im Stiegenhaus, sie schreitet theatralisch, ohne Atemnot, bis zum Mezzanin, wo sie mit ihrer Koloratur beginnt, einer um zwanzig Jahre verjüngten Stimme: cari amici, teneri compagni! und niemand sagt herablassend, das haben wir von der Schwarzkopf und von der Callas schon besser gehört, auch das Wort ›fette Wachtel‹ ist aus dem Stiegenhaus verschwunden, und die Leute aus dem dritten Stock sind rehabilitiert, eine Intrige hat sich in Nichts aufgelöst. Soviel bewirkt die Nachfreude, weil es endlich ein herrliches Buch auf Erden gibt, und ich mache mich auf und suche nach seinen ersten Seiten für Ivan, ich mache ein geheimnisvolles Gesicht, denn es soll eine Überraschung für ihn werden. Aber Ivan deutet mein Geheimnisvolltun noch nicht richtig und er sagt heute: Du hast ja rote Flecken im Gesicht, was hast du denn, warum lachst du denn so blöde? Ich habe doch bloß gefragt, ob ich noch etwas Eis für meinen Whisky haben kann.
Wenn Ivan und ich schweigen, weil nichts zu sagen ist, also wenn wir nicht reden, dann senkt sich aber kein Schweigen herab, sondern ich merke, im Gegenteil, daß vieles uns umgibt, daß alles lebt um uns herum, es macht sich bemerkbar, ohne aufdringlich zu sein, die ganze Stadt atmet und zirkuliert, und so sind Ivan und ich nicht besorgt, weil nicht abgetrennt und monadenhaft eingesperrt, nicht kontaktlos und in nichts Schmerzliches abgetan. Auch wir sind ein akzeptabler Teil der Welt, zwei Leute, die müßig oder eilig auf dem Trottoir gehen, ihre Füße auf einen Zebrastreifen setzen, und wenn wir auch nichts sagen, uns nicht direkt miteinander verständigen, wird Ivan mich doch rechtzeitig am Ärmel halten und festhalten, damit ich unter kein Auto oder keine Straßenbahn komme. Ich haste immer ein wenig hinter ihm drein, weil er so viel größer ist und nur einen Schritt machen muß, wo ich zwei Schritte machen muß, aber ich will versuchen, wegen des Zusammenhangs mit der Welt, nicht zu weit zurückzubleiben, mit ihm zu gehen, und so erreichen wir die Bellaria oder die Mariahilfer Straße oder den Schottenring, wenn wir etwas erledigen müssen. In letzter Minute würden wir es schon bemerken, wenn einer den anderen zu verlieren drohte, denn niemals könnten wir, wie andere, einander provozieren, auseinandergeraten, trotzig sein, einander verstoßen oder ablehnen. Wir denken nur,daß wir vor sechs Uhr im Reisebüro sein müssen, daß die Zeit auf der Parkscheibe überschritten sein dürfte, daß es jetzt zum Auto zurücklaufen heißt, und dann wird heimgefahren in die Ungargasse, wo jede erdenkliche Gefahr, in die zwei Menschen kommen können, vorüber ist. Sogar am Tor Nummer 9 kann ich Ivan zurücklassen, er braucht nicht bis zur Nummer 6 zu kommen, wenn er so müde ist, und ich verspreche ihm, ihn in einer Stunde anzurufen, ihn aufzuwecken, auch wenn er mich beschimpfen wird am Telefon, stöhnen und fluchen, weil er nicht zu spät zum Abendessen kommen darf. Lajos hat nämlich angerufen, der auch einmal bei mir angerufen hat, um nach Ivan zu fragen, und ich habe mit einer Sekretärinnenstimme geantwortet, freundlich, kühl, ich wisse leider nicht Bescheid, würden Sie die Güte haben, bei ihm anzurufen, und dann muß ich eine Frage niederkämpfen. Wo ist Ivan, wenn er nicht zu Hause ist, aber auch nicht bei mir ist und ein gewisser Lajos ihn sucht? Ich weiß es nicht, ich weiß leider nichts, natürlich sehe ich ihn hin und wieder, zufällig bin ich mit ihm heute durch die Stadt gegangen, zufällig in seinem Auto zurückgefahren in den III . Bezirk, es gibt also aus Ivans früherem Leben einen Mann, der Lajos heißt und vertraut tut, sogar im Besitz meiner Telefonnummer ist, und bisher kenne ich aus Ivans Leben nur die Namen Béla und András und eineMutter, die er seine Mutter nennt, und wenn er von diesen dreien spricht, dann erwähnt er eilig, ohne die Gasse zu nennen, daß er wieder einmal rasch auf die Hohe Warte müsse, es kommt oft vor, nur von einer Frau höre ich nichts, niemals etwas von der Mutter dieser Kinder, von deren Großmutter ja, die Ivans Mutter ist, aber die Mutter von Béla und András stelle ich mir vor, zurückgeblieben in Budapest, II . Bimbó Út 65, oder in Gödöllö, in einem alten Sommerhaus. Manchmal denke ich sie mir tot, erschossen, von einer Mine hochgejagt und zerrissen oder einfach gestorben an einer beliebigen Krankheit in einem Krankenhaus in Budapest oder dortgeblieben, arbeitend, fröhlich, mit einem Mann,
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