Malina
möglichen Leuten zugestanden wird, die, besser bezahlt und auf Lehrstühlen sitzend, über die Gottesbeweise nachdenken dürfen, sinnieren dürfen über das Ontos On, die Aletheia oder meinetwegen die Erdentstehung und die Entstehung des Alls! Einem unbekannten schlechtbezahlten Otto Kranewitzer wurde aber nur Niedrigkeit und Pflichtvergessenheit nachgesagt. Nicht wurde bemerkt, daß er ins Sinnieren gekommen war, daß ihn das Staunen erfaßt hatte, das ja der Anfang alles Philosophierens und der Menschwerdung überhaupt ist, und angesichts der Dinge, über die er aus der Fassung geriet, war ihm die Kompetenz gar nicht abzusprechen, denn niemand als er, der dreißig Jahre lang in Klagenfurt die Post ausgetragen hatte, war fähiger, das Problem der Post, das Problematische daran zu erkennen.
Ihm waren unsere Straßen vollkommen vertraut, es war ihm klar, welche Briefe, welche Drucksachen, welche Pakete richtig frankiert waren. Auch feinere und feinste Unterschiede bei der Adreßschreibung, ein ›Hwg‹ oder ein Name ohne ›Herrn‹ oder ›Frau‹ dazu, ein ›Prof. Dr. Dr.‹ sagten ihm mehr über Attitüden, Generationskonflikte, soziale Alarmzeichen, als unsere Soziologen und Psychiater je herausfinden werden. Bei falscher oder mangelhafter Absenderangabe war ihm im Nu alles klar, selbstverständlich unterschied er ohne weiteres einen Familienbrief von einem Geschäftsbrief, Briefe fast freundschaftlicher von solchen ganz intimer Natur, und dieser bedeutende Briefträger, der das ganze Risiko seines Berufs für alle anderen mit als Kreuz auf sich genommen hat, muß in seiner Wohnung, vor dem anwachsenden Postberg, vom Grauen befallen worden sein, unsägliche Gewissensqualen erlitten haben, die anderen Menschen, für die ein Brief einfach ein Brief ist und eine Drucksache gleich Drucksache, gar nicht einsehbar wären. Wer hingegen, wie ich, auch nur den Versuch macht, die eigene Post aus einigen Jahren zusammenzutragen und sich davor hinzusetzen (und der wäre noch immer befangen, weil es bloß die eigene Post ist, die nicht ganz befähigt, größere Zusammenhänge zu sehen), würde wohl begreifen, daß eine postalische Krise, selbst wenn sie nur in einer kleinerenStadt und wenige Wochen lang stattgefunden hat, dem Anfang einer erlaubten, öffentlichen, weltweiten Krise, wie sie oft leichtfertig heraufbeschworen wird, überlegen ist durch ihre Moral, und daß das Denken, das immer seltener wird, nicht nur einer privilegierten Schicht und ihren fragwürdigen Vertretern, den beamtet Reflektierenden, sondern auch einem Otto Kranewitzer zugestanden werden muß.
Seit dem Fall Kranewitzer hat sich in mir unmerklich vieles verändert. Malina muß ich es erklären, und ich erkläre es schon.
Ich: Seither weiß ich, was das Briefgeheimnis ist. Heute vermag ich schon, es mir ganz vorzustellen. Nach dem Fall Kranewitzer habe ich meine Post aus vielen Jahren verbrannt, danach fing ich an, ganz andere Briefe zu schreiben, meistens spät nachts, bis acht Uhr früh. Auf diese Briefe, die ich alle nicht abschickte, kommt es mir aber an. Ich muß in diesen vier, fünf Jahren etwa zehntausend Briefe geschrieben haben, für mich allein, in denen alles stand. Ich öffne auch viele Briefe nicht, ich versuche, mich im Briefgeheimnis zu üben,mich auf die Höhe dieses Gedankens von Kranewitzer zu bringen, das Unerlaubte zu begreifen, das darin bestehen könnte, einen Brief zu lesen. Aber immer noch habe ich Rückfälle, weil ich plötzlich doch einen aufmache und lese, ihn dann sogar herumliegen lasse, so daß du ihn, zum Beispiel, lesen könntest, während ich in der Küche bin. Mit so wenig Sorgfalt hüte ich die Briefe. Es ist also nicht die Krise der Post und des Schreibens, der ich nicht ganz gewachsen bin. Ich falle in die Neugier zurück, ich reiße hin und wieder ein Päckchen auf, besonders zur Weihnachtszeit, und packe beschämt ein Halstuch aus, eine Kerze aus Bienenwachs, eine versilberte Haarbürste von meiner Schwester, einen neuen Kalender von Alexander. So inkonsequent bin ich immer noch, obwohl der Fall Kranewitzer mich hätte bessern können.
Malina: Warum liegt dir soviel an dem Briefgeheimnis?
Ich: Nicht wegen dieses Otto Kranewitzer. Meinetwegen. Auch deinetwegen. Und in der Wiener Universität habe ich auf einen Stab geschworen. Es war mein einziger Schwur. Keinem Menschen, keinem Stellvertreter einer Religion oder Politik war ich je fähigzu schwören. Schon als Kind, da ich mich anders nicht wehren
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