Malka Mai
Befehl Imris eine Wiese kriechend überqueren, damit man sie von einem Dorf aus, das nicht weit unter ihnen lag, nicht sehen konnte.
Mittags rasteten sie in einem Wald neben einer Quelle und aßen das Brot, das Imri mitgebracht hatte. Hanna war froh, dass sie sich vor dem Essen die Hände waschen konnte, aber als sie sah, wie die anderen dasaßen, schmutzig, erschöpft, und nach den Broten grapschten, verging ihr der Appetit und sie musste sich zum Essen zwingen. Trotz ihrer Erleichterung, nun zu dieser Gruppe zu gehören, fühlte sie sich allein und verlassen. Auch verlassen von Minna, dachte sie und warf einen Blick nach links, wo ihre Tochter und Ruben saßen, ziemlich dicht nebeneinander, aber ohne sich zu berühren. Hanna wäre am liebsten aufgesprungen und hätte die beiden auseinander gerissen, so falsch kam ihr das vor. Malka hätte neben Minna sitzen müssen, nicht dieser junge Mann. Er war auf seine Art, ganz hübsch, für Hannas Geschmack allerdings zu zart, sie mochte diesen etwas vergeistigten jüdischen Typ mit den schmachtenden Mandelaugen und den dunklen Haaren nicht besonders, ihr gefielen kräftige Männer besser.
Mendel Frischman hatte sie beobachtet. »Beruhigen Sie sich doch, Frau Doktor«, sagte er. »Wenn wir erst in Munkatsch sind, bekommen Sie Ihre Kleine wieder, Kopolowici hat es versprochen.«
Hanna nickte und zwang sich zu einem Lächeln.
»Mein Mann, Efraim Kohen und Mendel Frischman haben dem Mann viel Geld dafür gegeben, dass er das Kind behält«, sagte Frau Wajs. »Sie haben allen Grund, uns dankbar zu sein, Frau Doktor Mai.«
Hanna bemühte sich, ihren Ärger nicht zu zeigen und ein dankbares Gesicht aufzusetzen. »Wir bezahlen das Geld zurück«, versprach sie. »In Budapest werden wir arbeiten und alles zurückzahlen.«
Mendel Frischman machte eine besänftigende Handbewegung und Schmuel Wajs sagte zu seiner Frau, sie solle endlich den Mund halten.
Dann setzten sie ihren Weg fort. Hanna hielt den Kopf gesenkt, sah kaum etwas von der Landschaft, nur die Erde, die unter ihr nach hinten glitt und manchmal anfing zu schwanken. Immer wieder überlegte sie, ob ihre Entscheidung richtig gewesen war. Aber war es überhaupt eine Entscheidung gewesen? Hatte sie eine Wahl gehabt?
Sie war doch nicht schuld am Krieg, sie war nicht schuld an der Situation. Man konnte ihr höchstens vorwerfen, dass sie die Situation falsch eingeschätzt hatte, dass sie sich so lange in Sicherheit gewiegt hatte. Aber Weitsicht und Planung waren noch nie ihre Stärke gewesen. Sie kannte sich, sie gehörte eher zu den Leuten, die schnell reagierten, ungeplant, oft aber mit einem sicheren Instinkt für die Situation. Hoffentlich hatte sie auch diesmal das Richtige getan.
Malka schlief die ganze Zeit . Ab und zu wachte sie auf, wenn ihr jemand ein Glas Tee oder Milch an den Mund hielt, dann trank sie folgsam ein paar Schlucke, manchmal wurde sie gefüttert, dann kaute und schluckte sie, was ihr in den Mund geschoben wurde, ohne zu merken, was es war, und ohne die Augen aufzumachen. Sie machte die Augen auch nicht auf, wenn sie aus dem Bett gehoben und auf einen Eimer gesetzt wurde, in den sie ihr Geschäft verrichtete, oder wenn ihr jemand Salbe auf die Beine strich.
Manchmal sprach jemand zu ihr, aber sie gab keine Antwort. Ganz selten gehörte die Stimme einem Mädchen, meistens war es eine Frauenstimme, die sagte »Hier, iss« oder »da hast du was zum Trinken« oder »Komm, du musst doch bestimmt mal wieder pischen oder kacken«.
Sie wunderte sich über diese Wörter, die sie zu Hause nie hatte benutzen dürfen, nur Zofia hatte pischen und kacken gesagt. Beide, die Frau und das Mädchen, sprachen Jiddisch, eine Sprache, deren Sinn Malka mehr erahnte als verstand.
Dann, sie wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, wachte sie auf und fühlte sich wohl. Sie schwankte zwar, als sie aus dem Bett stieg und zu dem kleinen Fenster in der Stirnwand hinüberging, und ihre Beine zitterten, aber sie trugen sie und taten nicht mehr so weh.
Das Fenster war offen, sie konnte in einen ungepflasterten Hof hinunterschauen, der in eine Wiese mit Obstbäumen überging. Hinten im Hof, neben einem Schuppen, befand sich ein Brunnen mit einem gemauerten Becken und einer Pumpe. Weit und breit war kein Mensch zu sehen oder zu hören, nur Hühner, der Hof war voller Hühner und plötzlich fiel ihr ein, dass sie im Halbschlaf immer wieder Gackern gehört hatte, ohne dass es ihr zum Bewusstsein gekommen war, und sie
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