Malka Mai
uns findet. Mein Vater hat gesagt, dass er dich gleich wegbringt.« Dann ging das Mädchen mit dem nur halb geleerten Teller wieder hinunter.
Malka band sich die neuen Fußlappen an die Füße, wickelte sich den Pullover von Frau Kowalska um den Bauch, zog ihre Jacke über das Kleid und steckte Liesel in die Tasche. Sie war bereit. Hoffentlich war ihr nächstes Versteck nicht so langweilig wie dieses hier.
Viel gegessen hatten sie nicht , Imri, ihr Führer, hatte in dem Dorf, das nun weit unter ihnen lag, nur einen Laib Brot aufgetrieben. Eine Scheibe Brot für jeden, dazu ein Stück von der fetten Salami, die Imri aus seinem Rucksack gezogen hatte. »Abends bekommen wir mehr«, hatte er versprochen. »Heute Abend sind wir bei einem Waldhüter.« Und als Rachel Wajs ihn mit einer weinerlichen Stimme gefragt hatte, wie lange sie denn noch gehen müssten, hatte er nur mit den Schultern gezuckt. Rachel Wajs saß mit den beiden anderen Frauen unter einem Baum. Sie hatte die Schuhe ausgezogen und massierte sich die Füße und die geschwollenen Knöchel. Hanna beschloss, ihr abends kalte Umschläge zu machen und dafür zu sorgen, dass sie die Beine hochlegte.
Minna pflückte ein paar erbsengroße, leuchtend orangefarbene Beeren von einem sparrigen Dornenstrauch und zeigte sie ihrer Mutter. »Iss«, sagte Hanna. »Iss, so viel du kannst, sie sind sehr gesund.«
Sie selbst war zu müde, um aufzustehen, sie blieb hocken und rieb vorsichtig ihren Rücken am Stamm der niedrigen, windschiefen Kiefer. Mit spitzen Fingern, den Dornen ausweichend, pflückte Minna eine Beere nach der anderen und schob sie in den Mund. Ruben stand auf und stellte sich neben sie. Sie waren fast gleich groß. Hanna sah, wie die beiden sich anschauten. Minna hielt mitten in der Bewegung inne, wie eingefroren war der Augenblick, dehnte sich, wurde länger und länger. Hanna starrte die beiden an, die nichts merkten, sie waren allein auf der Welt. Dann, endlich, bewegte Minna die Hand, pflückte eine Beere und hob sie zu Rubens Lippen. Er öffnete den Mund, ohne den Blick von ihr zu wenden, und sie schob ihm die Beere hinein. Minna sah so fremd aus, so anders, sie hatte nichts mehr mit dem Kind zu tun, das sie einmal war. Hanna wandte verlegen den Blick ab. Sie hatte das Gefühl, etwas zu beobachten, was sie nichts anging.
Sie dachte an ihre Schwester Golda, die geheiratet hatte, als sie kaum älter gewesen war als Minna jetzt. Die beiden hatten die gleichen, blaugrauen Augen, die ganz hell wurden, wenn sie fröhlich waren, und dunkel bei Zorn. Hanna lächelte. Auch sie hatte diese Augen, geerbt von ihrem Vater, genau wie ihre Schwester. Auch ihre Schwester Malka, die älteste, früh verstorbene, hatte diese graublauen Augen gehabt. Eine Familienfarbe. Nur Malka, ihre eigene Tochter, war braunäugig. Hanna senkte den Kopf.
Spät am Abend, als sie nach einem langen, ermüdenden Marsch bei jenem Waldhüter angekommen waren, gab es Pilzsuppe, dazu eine Scheibe trockenes Brot. Minna wandte sich angeekelt ab. Sie mochte keine Pilze, hatte sie, im Unterschied zu Malka, nie gemocht, dieses schwammige, schleimige Zeug, wie sie es immer genannt hatte. Hanna unterdrückte den Impuls, ihre Tochter anzufahren, ihr zu sagen, dass jetzt alles anders war und sie sich gefälligst nicht mehr so anstellen solle, und hielt ihr stattdessen ihre eigene Scheibe Brot hin. »Ich habe keinen Hunger«, sagte sie.
Als sie später in der Scheune lag, zusammen mit allen anderen, konnte sie lange nicht einschlafen. Immer wieder ging ihr das Bild durch den Kopf, wie Minna Ruben die Beere in den Mund geschoben hatte. Zwischen den beiden lief etwas ab, was nicht sein sollte, noch nicht. Warum eigentlich nicht?, dachte sie. Nur weil es mich älter macht? Weil meine Tochter offenbar erwachsen wird? Unruhig drehte sie sich auf die andere Seite. Minna hatte ihr den Rücken zugewandt, ihre Haare kitzelten sie in der Nase. Das Mädchen schlief.
Sie war älter gewesen, knapp über zwanzig, als sie die Liebesgeschichte mit dem polnischen Adligen gehabt hatte, eine Erinnerung, die sie zu verdrängen versuchte, weil sie mit Scham verbunden war. Aleksander war bereit gewesen, das jüdische Mädchen zu heiraten, er hatte sie geliebt. Und sie ihn auch, es war eine verrückte Zeit gewesen. Aber sie hatte den Konflikt nicht ausgehalten, weder den mit ihrer eigenen Familie noch den mit seiner. Außerdem hatte sie damals studiert, sie hatte andere Zukunftspläne, die ihr, wie sie ehrlich zugab,
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