Malka Mai
es dunkel war, drehten sich Lichtstreifen vor ihren Augen und wurden größer, es waren die Lichter einer Lokomotive, sie sah Dampf aufsteigen, rötlichen Dampf, in dem Funken glühten, und der Dampf umfing sie, hob sie hoch und schaukelte sie hin und her.
Als sie das nächste Mal aufwachte, war es wirklich Morgen. Ihre Mutter und Minna saßen auf ihrem Bettrand, an der Tür stand ein fremder Mann. Das musste Herr Kopolowici sein, von dem die Mutter gestern erzählt hatte. »Los, beeilen Sie sich«, sagte der Mann. »Die anderen warten nur noch auf Sie und Ihre Tochter.«
»Malka«, sagte die Mutter. »Du bleibst ein paar Tage hier, bei der Familie Kopolowici. Und wenn es dir wieder besser geht, bringt Herr Kopolowici dich mit der Eisenbahn zu uns. Wir müssen nach Munkatsch und du bist zu krank, um mitzukommen.«
Malka brauchte lange, um die Worte zu verstehen, und auch dann waren sie nicht klar und es fiel ihr schwer, den Sinn zu erfassen. Aber »du hier« und »wir Munkatsch« drang zu ihr durch. Sie weinte. »Ich will nicht hier bleiben«, sagte sie. »Ich kann gut laufen, das weißt du doch. Ich bin kein kleines Kind mehr.«
Die Mutter zog sie hoch, so dass sie im Bett saß, legte die Arme um sie und drückte sie an sich. »Es geht nicht anders, es muss so sein, wir haben keine Wahl.«
Malka wollte betteln, wollte schreien, doch dann sah sie das Gesicht ihrer Mutter, sah, dass Minna den Tränen nahe war, und verstand, dass es wirklich so sein musste. Deshalb schluckte sie das bittere Gefühl, das in ihrer Kehle aufstieg, hinunter und schwieg.
»Kommen Sie endlich«, sagte der Mann von der Tür aus. »Ich habe die Adresse von Doktor Rosner und Sie haben die Adresse von meiner Schwester, ich werde Ihnen die Kleine bringen, sobald es ihr besser geht, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«
Malka sah den Mann an, er blickte starr zu dem kleinen Fenster auf der gegenüberliegenden Seite, in dem das Licht immer heller wurde. »Geht nur«, sagte Malka. »Geht nur, ich bleibe hier.«
Dann ließ sie sich rückwärts fallen, drehte sich zur Wand und machte die Augen zu, um nicht sehen zu müssen, wie ihre Mutter und Minna die Kammer verließen. Liesel fest an ihr Gesicht gedrückt, hörte sie erst die lauten Schritte auf der Treppe, dann das Klappen einer Tür. Danach klangen die Schritte dumpfer, als würden sie über Erde oder über Gras gehen. Schließlich war nichts mehr zu hören. Nur noch das Gackern von Hühnern.
Hanna lief hinter den anderen her . Alle hatten ihre Entscheidung begrüßt, alle hatten ihr versichert, dass sie richtig gehandelt hatte. Sie und Minna waren fast freundschaftlich aufgenommen worden, sogar Rachel Wajs hatte ihr die Hand gegeben und sie als neues Mitglied der Gruppe begrüßt.
Hanna war erleichtert darüber, dass sie keine Entscheidungen mehr treffen musste, sie brauchte nichts mehr zu überlegen, sie konnte einfach hinter den anderen herlaufen. Ganz vorn ging der Führer, der nur gebrochen Polnisch sprach und sich als Imri vorgestellt hatte. Er war ein gut aussehender Mann, Ende vierzig vielleicht, braunhaarig, mit einem großflächigen Gesicht, hohen Backenknochen und einem breiten, vollen Mund. Unter anderen Umständen wäre dieser Imri genau der Mann gewesen, für den Hanna sich interessiert hätte. Aber dieser Gedanke war absurd, das wusste sie, sie brauchte nur ihre dreckigen Fingernägel und ihre inzwischen ziemlich ramponierte Kleidung anzuschauen. Imri führte einen Esel am Seil, der mit den Rucksäcken der anderen Flüchtlinge beladen war.
Eine komfortable Flucht, dachte Hanna, gut geplant und mit viel Geld. Wieder stieg Ärger in ihr auf, Wut, fast Hass auf diese Frauen, die nicht allein waren.
Doch auch eine Flucht mit Geld war beschwerlich. Die drei Männer, Schmuel Wajs, Efraim Kohen und Mendel Frischman gingen dicht hinter Imri, dann folgten ihre Frauen. Minna und der junge Mann, der Ruben hieß, liefen seit Stunden Seite an Seite, offenbar hielt Minna diesen Ruben für einen angenehmeren Reisebegleiter als ihre Mutter, die auf einmal das Gefühl hatte, eine alte Frau zu sein.
Sie kamen nicht schneller vorwärts als Hanna und ihre Töchter auf ihrem Weg durch die Berge, denn sie wichen allen Dörfern und Siedlungen aus, schlugen einen Bogen um jedes Haus und mieden Straßen. Sie liefen auf Trampelpfaden durch Wälder, einer hinter dem anderen, in einem langen Gänsemarsch, sie stiegen Hügel und Berge hinauf und wieder hinunter, und einmal mussten sie auf
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