Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
denn wenn Deutsche ins Ghetto kamen, was zum Glück nicht sehr häufig passierte, horchte sie, aus welcher Richtung ihre Stiefel, ihre Stimmen oder ihre Autos zu hören waren, und entwischte in den nächsten Hof, von dem aus es einen Durchgang zum Nachbarhof gab, mit einem Ausgang zur Parallelstraße. Sie konnten ja nicht in allen Straßen gleichzeitig sein. Manchmal lief Malka auch die Treppen eines Hauses hinauf bis unters Dach und wartete dort, in eine dunkle Ecke gekauert, bis ihr der normale Straßenlärm anzeigte, dass die Deutschen wieder verschwunden waren.
    Sie hatte sogar den Schuppen entdeckt, in dem eine Gruppe Jungen lebte, wie viele, hatte sie noch nicht herausgefunden, die Zahl schien sich ständig zu ändern, sie wusste nur, dass die beiden, die sie für Schlomo und Jossel gehalten hatte, dazugehörten. Sie hatte sie mit anderen reden hören und so ihre richtigen Namen erfahren, der größere Junge hieß Micki, der kleinere David. Sie freute sich jedes Mal, wenn sie die beiden sah, dann fühlte sie sich weniger einsam. So jedenfalls hatte sie am Anfang gedacht, aber mittlerweile war ihr das nicht mehr so wichtig, sie hatte sich daran gewöhnt, allein zu sein. Trotzdem ging sie jeden Tag an diesem Schuppen vorbei, einmal, zweimal, dreimal, in gebührender Entfernung, und hielt nach Micki und David Ausschau. Wenn sie sie sah, war sie zufrieden, einfach so.
    Nein, die Einsamkeit war nicht schlimm, schlimmer war der Hunger. Sie konnte an nichts anderes denken, der Hunger beherrschte sie jede Stunde, jede Minute, und wenn sie morgens aufwachte, spürte sie, dass sie auch im Schlaf hungrig gewesen war und vom Hunger geträumt hatte. Der Hunger wurde zum Zentrum ihrer Gedanken, selbst wenn sie sich noch so sehr bemühte, nicht an Essen zu denken. Sie kaute vor Hunger ihre Fingernägel ab, lutschte an ihren Fingern und abends auf ihren Säcken kaute sie sogar an ihren Fußnägeln herum.
    Seit jenem paradiesischen Tag nach der Aktion, in dem leeren Ghetto, lebte sie von dem, was andere Leute ihr gaben. Wenn sie eine Frau aus der Bäckerei, wo sie besonders gern stand, oder aus einem anderen Laden kommen sah, verstellte sie ihr den Weg und sagte: »Ich habe Hunger.« Manchmal wurde sie einfach zur Seite gestoßen, eigentlich passierte das meistens, aber ab und zu gab ihr jemand ein Stück Brot. Wenn sie etwas zu essen bekam, kaute sie es immer langsam und gründlich, bevor sie es runterschluckte, weil sie dachte, das Brot würde umso flüssiger, je länger sie kaute – und umso weniger müsste sie kacken.
    Kacken war das Schlimmste. Kacken bedeutete, dass der Körper leer wurde, und das durfte nur passieren, wenn man auch etwas hatte, womit man ihn wieder füllen konnte. Sie hatte wenig Ahnung von ihrem Bauchinneren. Natürlich wusste sie, dass sie einen Magen und Därme hatte, aber nicht, wie sie aussahen, nur voll mussten sie sein, das wusste sie genau. Und das spürte sie auch, denn jedes Mal, wenn sie gekackt hatte, war ihr Hunger besonders groß. Sie stellte sich vor, dass ihr Körper nur dadurch seine Form behielt, weil er irgendwie ausgestopft war. Wäre er leer, würde sie zusammenfallen wie ein Mehlsack, in den man ein Loch geschnitten hatte. Malka wollte nichts hergeben, gar nichts, sie wollte alles in sich behalten, was sie füllte.
    Die Tage vergingen, ohne dass Malka sie zählte. Sie teilte ihre Tage in Essen oder Nichtessen ein. Die Essentage trugen Namen, waren Lichtblicke im Grau der dahinfließenden Tage, die vom Hunger bestimmt waren und die sie einfach »andere« Tage nannte. Ein Tag, an den sie sich besonders gern erinnerte, hieß Ein-Laib-Brot-Tag. Eine Frau hatte ihr einen ganzen Laib Brot geschenkt, als sie sich vor sie hingestellt und gesagt hatte: »Ich habe Hunger.« Auf die Frage der Frau: »Wo ist deine Mutter?«, hatte sie angefangen zu weinen, weil sie dieses Wort nicht hören wollte, weil der Hunger so wehtat, weil die Verzweiflung über ihr zusammenschwappte.
    Die Frau hatte ihr wortlos ihren gerade gekauften Laib Brot in die Hand gedrückt und war in die Bäckerei zurückgegangen. Malka hatte das Brot unter ihrem Mantel versteckt und war weggerannt, weit weg, bevor die Frau es sich anders überlegen konnte.
    Einen anderen Tag, er lag schon länger zurück, es musste zwei, drei Tage nach ihrer Rückkehr von Ciotka gewesen sein, nannte sie Rüben-Tag. Sie war in den Westteil des Ghettos gegangen, dahin, wo zwischen den Häusern ein paar vereinzelte Gärten waren, in denen, gut

Weitere Kostenlose Bücher