Malka Mai
Fenster und Tür blieben geschlossen. Menschen liefen an ihr vorbei, ohne auf sie zu achten. Ein Käfer krabbelte über ihr Bein. Sie nahm ihn hoch, betrachtete ihn, sah zu, wie seine fadendünnen Beinchen zuckten, und setzte ihn dann zurück auf die Straße.
Es fing an zu dämmern, es wurde dunkel. Im Haus gegenüber ging im Fenster rechts neben der Haustür das Licht an. Die Frau, die aussah wie Teresa, war einen Moment lang deutlich zu erkennen, dann zog sie den Vorhang zu. Nicht viel später gingen auch im ersten Stock die Lichter an, in dem einen Fenster wurde der Vorhang von einer weißhaarigen Frau zugezogen, im anderen von einem Mann, dessen Haarfarbe sie nicht erkennen konnte. Irgendwo schrie ein Baby. Malka blieb so lange auf der dunklen Straße sitzen, bis im Haus gegenüber kein Licht mehr zu sehen war.
An diesem Abend aß sie den Apfel, den Ciotka ihr gegeben hatte. So lange hatte sie ihn aufbewahrt, als ihren kostbarsten Besitz. Nun besaß sie nichts mehr.
Drei Tage blieben sie in Munkatsch, weil der Mann, der die Gruppe übernehmen sollte, nicht auftauchte. Stern hatte ihnen zusätzliche Matratzen und Decken bringen lassen, damit sie alle schlafen konnten. Hanna war es egal, sie bewegte sich wie in einem Alptraum, sie konnte nicht schlafen und sie hatte keinen Hunger. Natürlich lag das auch an dem Dreck. Es war ihr unerklärlich, wie leicht sich ihre Mitflüchtlinge mit den unhygienischen Bedingungen abfanden. Sogar Minna aß inzwischen alles, was sie bekam, ohne das Gesicht zu verziehen, ihr Hunger zwang sie dazu. Auch hier, in der Halle, saß sie oft mit Ruben zusammen in einer Ecke. Hanna fragte sich manchmal, was die beiden miteinander sprachen, sie selbst hatte nie so viel mit Männern gesprochen, noch nicht einmal mit Aleksander, aber dann vergaß sie den Gedanken auch gleich wieder. Es war ihr recht so, denn Minna war freundlicher und hilfsbereiter, als sie in den letzten Monaten gewesen war. Manchmal lachte sie sogar und sah für einen Moment so fröhlich aus wie früher, als Zofia noch bei ihnen gewesen war. Wenigstens um Minna brauchte sie sich im Moment keine Sorgen zu machen.
Morgens, nach dem kärglichen Frühstück, ging Hanna zu Doktor Rosner, obwohl beide, der Mann und die Frau, sie inständigst anflehten, nicht mehr selbst zu kommen, sie nicht in Gefahr zu bringen und Rücksicht auf ihr fortgeschrittenes Alter zu nehmen; wenn es unbedingt nötig wäre, könne sie ja anrufen. Hanna ging nicht darauf ein, sie empfand kein Mitleid mit diesen Menschen, die satt und zufrieden in ihrer eigenen Wohnung lebten, sich nicht um das Leid der anderen kümmerten und nur an ihre eigene Haut dachten. Sie ließ sich nicht abweisen und verließ das Haus erst, wenn beide ihr immer wieder versichert hatten, nichts von Malka gehört zu haben. Danach ging sie zu Kopolowicis Schwester, die sie auch anflehte, nicht noch einmal zu kommen. Sie schwor bei ihrem Leben, ihr das Kind zu Sterns Lagerhalle zu bringen, falls ihr Bruder auftauchen würde.
Hanna wusste nicht, was sie denken sollte, sie wagte sich nicht zurück in die Halle, weil sie Angst vor den fragenden Blicken Minnas hatte, vor den abwiegelnden Bemerkungen ihrer Weggenossen. Deshalb lief sie stundenlang durch die Stadt, ohne jede Vorsicht, getrieben von ihren Gedanken und ihrem Gewissen.
Sie hätte das Kind nicht dort lassen dürfen, irgendwie wären sie auch alleine weitergekommen, ohne die Gruppe, sie hatten es von Lawoczne nach Pilipiec doch auch geschafft. Vielleicht hatte sie die Situation falsch eingeschätzt, wie so oft. Und immer wieder fragte sie sich, ob sie es vielleicht aus Angst vor den Unbequemlichkeiten getan hatte, aus Angst vor der Strapaze, vor den Polizisten, vor der Gefahr. Ob sie das Kind dort gelassen hatte, um es sich selbst leichter zu machen. Und noch ein anderer Gedanke bedrängte sie, der an Issi, Malkas Vater. Was sollte sie ihm sagen, wenn er nach seiner kleinen Tochter fragte? Ich habe dir wenigstens die eine gerettet, während du gemütlich in Palästina Orangen gepflückt und Kühe gemolken hast? Wo warst du denn, als wir in Not waren? Aber es nützte nichts, immer wieder sah sie den Satz ihres Vaters vor sich, in seiner gestochenen Handschrift: Man lässt einen Menschen in Not nicht im Stich.
Sie hatte das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben. Wenn Issi jetzt hier wäre, könnte er ihr helfen. Wenn sie nicht wegen ihres Berufs in Polen geblieben wäre, wäre sie vermutlich ebenfalls seit fünf Jahren in
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