Malloreon 5 - Seherin von Kell
noch fort. Zandramas stand vor Schrecken erstarrt. Die Bestie, die sie großgezogen, und der Dämon, den sie gesandt hatte, Besitz davon zu ergreifen, waren beide tot; und ihre verzweifelten Bemühungen, der Notwendigkeit zu entgehen, machtlos und hilflos am Ort der Wahl zu stehen, waren so nichtig gewesen wie die Sandburg eines Kindes vor der einsetzenden Flut. Garions Sohn blickte mit unverkennbarem Vertrauen und Stolz zu seinem Vater, und Garion fand Trost in diesem Blick aus den klaren Augen.
Cyradis weinte. Alles andere, das Garion bewegte, waren flüchtige Eindrücke. Die eine unabänderliche Tatsache aber war, daß unsagbare Trauer die Seherin von Kell völlig niederdrückte. Zu diesem Zeitpunkt war sie die wichtigste Person des Universums, und vielleicht war es immer so gewesen. Es könnte leicht sein, dachte Garion, daß die Welt nur aus dem einzigen Grund erschaffen worden war, dieses zerbrechliche Mädchen hierherzubringen, um diese eine Wahl zu treffen. Aber war sie dazu jetzt überhaupt imstande? Wäre es nicht möglich, daß der Tod ihres Führers und Beschützers – der einzigen Person auf der Welt, die sie wirklich geliebt hatte – sie unfähig machte, die Wahl zu treffen? Cyradis weinte, und solange sie weinte, verflog die Zeit. So deutlich, als lese er es in diesem Buch des Himmels, nach dem die Seher sich richteten, wußte Garion nun, daß der Zeitpunkt der Begegnung und der Wahl nicht allein der heutige Tag war, sondern ein ganz bestimmter Augenblick dieses Tages, und daß – falls Cyradis durch ihre unerträgliche Trauer nicht in der Lage war, in diesem ganz bestimmten Augenblick zu wählen – alles, was gewesen war, alles was war, und alles, was noch sein würde, verginge wie ein flüchtiger Traum. Sie mußte zu weinen aufhören, wenn nicht alles für immer verloren sein sollte.
Es begann mit einer klaren, einzelnen Stimme, einer Stimme, die sich in schwermütiger Trauer hob und in sich die Summe allen menschlichen Leides enthielt. Dann fielen andere Stimmen in diesen schmerzlichen Gesang ein, einzeln, in Trios oder Oktetten. Der Chor des Gruppenbewußtseins der Seher drang in die Tiefen der Trauer der Seherin von Kell, sank dann in ein unerträgliches Diminuendo schwärzester Verzweiflung und verlor sich in einem Schweigen tiefer als das Schweigen des Grabes.
Cyradis weinte, aber sie weinte nicht allein. Ihre gesamte Rasse weinte mit ihr.
Die einsame Stimme begann aufs neue, und die Melodie war ähnlich wie jene, die soeben verklungen war. Für Garions ungeschultes Ohr hörte sie sich fast genauso an, aber irgendwie hatte ein kaum merklicher Tonwechsel eingesetzt, und als die anderen Stimmen wieder einfielen, gesellten sich neue Töne zu dem Gesang; und die Trauer und abgrundtiefe Verzweiflung wurden durch sie in Frage gestellt.
Und wieder begann das Lied, diesmal nicht mit einer Solostimme, sondern in stimmgewaltigem Chor mit einem mächtigen Akkord, der mit sieghafter Bejahung selbst den Himmel zu erschüttern schien. Die Melodie blieb im wesentlichen die gleiche, doch was als ein Trauerlied begonnen hatte, war nun eine heitere Weise geworden.
Cyradis legte Toths Hand sanft auf seine leblose Brust, strich über sein Haar und tastete über seinen Leichnam, um tröstend Durniks tränenüberströmtes Gesicht zu berühren.
Nicht länger weinend erhob sie sich, und Garions Ängste lösten sich auf und schwanden wie der Morgennebel, der das Riff verhüllt und sich durch die Kraft der Sonne aufgelöst hatte. »Gehet!« sagte sie mit fester Stimme und deutete auf das nun unbewachte Portal. »Der Augenblick steht bevor. Gehet, Kind des Lichts, und Ihr, Kind der Finsternis, in die Grotte, denn wir haben Wahlen zu treffen, die, wenn einmal getroffen, nicht mehr ungeschehen gemacht werden können. Kommt mit mir zu dem Ort, der nicht mehr ist, um dort über das Schicksal aller Menschen zu entscheiden.« Ohne zu stocken führte die Seherin von Kell sie festen Schrittes zu dem Portal, über dem das steinerne Gesicht Toraks herabblickte.
Garion fühlte sich in der Kraft dieser klaren Stimme willenlos und fiel neben Zandramas in Schritt, um der zierlichen Seherin zu folgen. Als er und das Kind der Finsternis durch das Portal traten, spürte er, daß etwas gegen seine gepanzerte rechte Schulter streifte. Nicht ganz ohne Belustigung wurde ihm klar, daß die Kräfte, die diese Begegnung lenkten, sich ihrer selbst nicht so völlig sicher waren. Sie hatten eine unsichtbare Schranke zwischen ihm und der
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