Malloreon 5 - Seherin von Kell
worden war. Damals hatte er die Gestalt eines gesprenkelten Falken von der Größe eines Turmfalken angenommen, jetzt aber glich er in der Größe eher einem fast doppelt so großen Gerfalken, und durch eine Berggegend zu fliegen war ganz anders, als über die offene Weite des Meeres der Stürme zu segeln. Die Luftströmungen wirbelten und strudelten um die Felsen, wodurch sie unberechenbar, oder gar gefährlich wurden.
Die drei Falken stiegen mit einem Aufwind hoch. Das war eine mühelose Art des Fluges, und Garion begann Beldins Freude am Fliegen zu verstehen.
Er entdeckte auch, daß seine Augen unglaublich scharf waren. Er konnte jede Einzelheit der Bergwand deutlich erkennen, als befände sie sich unmittelbar vor ihm. Er sah Insekten und die einzelnen Blütenblätter von Blumen. Unwillkürlich zuckten seine Krallen, als ein kleines Nagetier über eine Geröllhalde huschte.
»Vergiß nicht, weshalb wir hier sind, Garion!« hörte er Tante Pols Stimme in der Stille seines Geistes.
»Aber…« Der Drang, mit gespreizten Krallen hinunterzustoßen, war schier unwiderstehlich.
»Kein Aber, Garion. Du hast bereits gefrühstückt. Laß das arme Geschöpf da unten in Ruhe.«
»Du nimmst der Sache ja den ganzen Spaß, Pol«, hörte Garion Beldin protestieren.
»Wir sind nicht des Spaßes wegen hier, Ohm! Flieg weiter.«
Der Windstoß traf Garion völlig unerwartet. Ein heftiger Abwind riß ihn in die Tiefe auf einen Felshang zu. Erst im letzten Augenblick gelang es ihm auszuweichen. Der Abwind schleuderte ihn dahin und dorthin, zerrte an seinen Schwingen, und plötzlich setzte ein peitschender Regen ein, und eisige Tropfen schlugen wie große schwere Hämmer auf sein Gefieder.
»Das ist nicht natürlich, Garion!« Er vernahm Tante Pols Stimme ganz deutlich. Verzweifelt blickte er sich um, aber er konnte sie nicht sehen. »Wo bist du?« rief er.
»Nicht wichtig! Benutz das Auge! Die Dalaser versuchen uns abzuwehren.«
Garion war nicht sicher, ob ihn das Auge an jenem seltsamen Ort auch hören konnte, an den es sich begab, wenn er seine Gestalt wandelte, aber er hatte keine Wahl, als es zu versuchen. Der peitschende Regen und die heulenden Luftströmungen machten es unmöglich, daß er auf dem Erdboden aufsetzte und seine eigentliche Gestalt annahm. »Sorg dafür, daß es aufhört!« rief er zu dem Stein. »Der Wind und der Regen…«
Es war wie eine Brandung, als das Auge seine Kraft einsetzte, und sie warf ihn wie ein welkes Blatt durch die Luft. Er flatterte verzweifelt, um das Gleichgewicht zu halten. Die Luft um ihn war plötzlich leuchtend blau.
Und dann hörten der heftige Wind und der peitschende Regen auf, die warme Strömung kehrte zurück und floß unbehindert aufwärts.
Garion war durch den Abwind gut tausend Fuß gesunken, und er sah Tante Pol und Beldin je eine gute Meile von ihm entfernt in entgegengesetzten Richtungen. Als er wieder spiralenförmig aufstieg, bemerkte er, daß sie ebenfalls hochflogen und auf ihn zukamen. »Sei wachsam«, riet Tante Pols Stimme ihm. »Benutz das Auge, um von vornherein abzuwehren, was sie uns sonst noch entgegensetzen.« Sie brauchten nur wenige Minuten, um die verlorene Höhe zurückzugewinnen, und stiegen weiter aufwärts über Wälder und Geröllhalden, bis sie die Region der Steilhänge oberhalb der Baum- und unterhalb der Gletschergrenze erreichten. Es war ein Gebiet steiler Wiesen, deren Gras und Blumen im Bergwind nickten.
»Dort!« Beldins Stimme schien zu knistern. »Das ist ein Pfad.«
»Bist du sicher, daß es nicht nur ein Wildwechsel ist?« fragte Polgara.
»Dazu ist er zu gerade, Pol. Kein Tier könnte eine so gerade Richtung einhalten, nicht einmal wenn sein Leben davon abhinge. Es ist ein von Menschen getretener Pfad. Schauen wir nach, wohin er führt.« Er kippte über einen Flügel und stieß hinunter zu dem festgetretenen Pfad, der durch eine Wiese hinauf zu einem Spalt in einem Felsenkamm führte. Am oberen Ende der Wiese flatterte er mit den Flügeln. »Landen wir«, schlug er vor. »Es ist ratsamer, wenn wir den Rest des Weges zu Fuß gehen.«
Tante Pol und Garion folgten ihm hinunter, dann nahmen die drei wieder ihre eigene Gestalt an. »Das war verdammt knapp da unten«, knurrte Beldin. »Fast wäre ich mit meinem Schnabel im Geröll gelandet.« Er blickte Polgara zweifelnd an. »Bist du immer noch sicher, daß die Dalaser niemandem etwas antun würden?« »Wir werden sehen.«
»Ich wollte, ich hätte mein Schwert dabei«, sagte
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