Malloreon 5 - Seherin von Kell
Garion. »Wenn wir in Schwierigkeiten geraten, können wir uns nicht einmal wehren.«
»Ich weiß nicht, ob dein Schwert bei der Art von Schwierigkeiten viel nutzen würde, mit der wir es möglicherweise zu tun kriegen«, entgegnete Beldin. »Aber verlier deine Verbindung zum Auge nicht! Vorwärts, wir wollen sehen, wohin dieser Pfad führt.« Er folgte dem steilen Weg zur Höhe.
Der Spalt im Kamm war ein schmaler Durchgang zwischen zwei gewaltigen Felsblöcken. Toth stand in der Mitte und versperrte ihnen stumm den Weg.
Polgara blickte ihm kühl ins Gesicht. »Wir werden auf jeden Fall zum Ort der Seher gehen, Toth. Es ist vorherbestimmt!«
Toths Augen wirkten flüchtig abwesend. Dann nickte er und trat zur Seite.
7
D ie Höhle war gewaltig, und in ihr stand eine Stadt. Sie sah dem tausend Fuß tiefer liegenden Kell sehr ähnlich, nur daß hier natürlich die Gärten und Anlagen fehlten. Es war dämmerig – die Seher mit den verbundenen Augen benötigten kein Licht, und die Augen ihrer stummen Führer hatten sich, wie Garion annahm, gewiß längst an das schwache Licht gewöhnt.
Auf den dunklen Straßen war kaum jemand unterwegs und die wenigen Personen, die sie sahen, als Toth sie in die Stadt führte, achteten nicht auf sie. Beldin brummelte vor sich hin. »Was hast du denn, Ohm?« fragte ihn Polgara.
»Ist dir je aufgefallen, wie sehr Menschen Gewohnheitstiere sind?« »Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst.«
»Diese Stadt befindet sich in einer Höhle, trotzdem haben sie Dächer auf ihren Häusern. Ist das nicht lächerlich? Schließlich kann es hier doch nicht regnen!«
»Aber es wird kalt, vor allem im Winter. Ein Haus ohne Dach ist schwer warm zu halten, meinst du nicht auch?«
Er runzelte die Stirn. »Daran hatte ich nicht gedacht«, gestand er.
Das Haus, zu dem Toth sie führte, stand in der Mitte dieser seltsamen Stadt im Berg. Es unterschied sich nicht von den anderen Häusern ringsum, doch seine Lage deutete darauf hin, daß sein Bewohner eine höhergestellte Persönlichkeit war. Toth trat ein, ohne zu klopfen, und führte sie in ein einfaches Gemach, in dem Cyradis auf sie wartete. Eine Kerze erhellte ihr bleiches junges Gesicht. »Ihr habt uns schneller erreicht, als wir erwartet hatten«, sagte sie. Ihre Stimme war auf merkwürdige Weise anders als bei ihren bisherigen Begegnungen. Garion hatte das beklemmende Gefühl, daß die Seherin mit mehr als einer Stimme redete, und die Folge war, daß es sich anhörte, als spräche sie im Chor.
»Ihr habt gewußt, daß wir kommen würden?« fragte Polgara sie.
»Natürlich, es war nur eine Frage der Zeit, wann Ihr Eure dreifache Aufgabe beenden würdet.« »Aufgabe?«
»Es war eine einfache für jemanden, der so mächtig ist wie Ihr es seid, Polgara, trotzdem war es ein notwendiger Test.«
»Ich kann mich nicht erinnern…«
»Wie ich sagte, war sie einfach, so einfach, daß Ihr sie zweifellos vergessen habt.«
»Ruft sie uns in Gedächtnis zurück!« sagte Beldin barsch.
»Selbstverständlich, sanfter Beldin.« Sie lächelte. »Ihr habt diesen Ort gefunden; ihr habt euch die Elemente unterworfen; und Polgara hat die richtigen Worte gesprochen, die euch den Einlaß sicherten.« »Weitere Rätsel«, sagte er sauer.
»Ein Rätsel ist manchmal der sicherste Weg, den Geist empfänglich zu machen.« Er brummelte.
»Es war notwendig, daß das Rätsel gelöst und die Aufgaben bewältigt waren, ehe ich euch das offenbaren kann, was offenbart werden muß.« Sie erhob sich. »So wollen wir denn aufbrechen und uns nach Kell begeben. Mein Führer und teurer Gefährte wird das große Buch tragen, das dem Ehrwürdigen Belgarath übergeben werden muß.«
Der stumme Hüne trat an ein Regal an der hinteren Wand des schwach erhellten Gemachs und holte ein großes, in schwarzes Leder gebundenes Werk heraus. Er klemmte es sich unter den Arm, nahm seine Gebieterin bei der Hand und führte sie alle aus dem Haus.
»Warum diese Geheimnistuerei, Cyradis?« fragte Beldin das Mädchen mit der Binde vor den Augen. »Weshalb verstecken die Seher sich hier im Berg, statt unten in Kell zu wohnen?« »Aber dies ist Kell, sanfter Beldin.« »Was ist dann die Stadt da unten im Tal?«
»Ebenfalls Kell.« Sie lächelte. »Es ist schon immer so bei uns gewesen. Im Gegensatz zu den Städten anderer liegen unsere Gemeinden weit verteilt. Dies ist der Ort der Seher. Es gibt noch andere Orte in diesem Berg – den der Zauberer, den der Nekromanten, den der Leser – und
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