Malory 09 - Der geheimnisvolle Verführer
erforderlich machen würde?«, bohrte James mit leicht bedrohlicher Stimme nach. Um sie wissen zu lassen, von welcher Art der Bestrafung er sprach, rieb er sich mit der geballten Faust die Wange.
»Nein, tun Sie ihm nicht weh!«
»Das würde uns im Traum nicht einfallen, meine Liebe«, versicherte Anthony ihr mit einem freudigen Funkeln in den Augen.
James lachte in sich hinein. Katey verwunderte die Reaktion der beiden ein wenig. Sie konnte dem Thema rein gar nichts Belustigendes abgewinnen. Auf der anderen Seite durfte sie nicht vergessen, dass diese englischen Lords teilweise einen ziemlich verschrobenen Humor besaßen.
Als sie satt war und sie keine Lust mehr auf Gespräche hatte, lehnte sie den Nachtisch, der ihr angeboten wurde, kurzerhand ab und empfahl sich. »Ich fürchte, es ist Zeit für mich, ins Bett zu gehen«, sagte sie, an die beiden Brüder gewandt. »Ein langer und anstrengender Tag liegt hinter mir.«
Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, sagte Anthony: »Gehen Sie bitte noch nicht, Katey. Ich muss noch etwas mit Ihnen besprechen.« Er sah zu seinem Bruder. »Bist du so lieb?«
James hatte zwar verstanden, fragte aber lachend: »Ich soll gehen?« und machte keine Anstalten, sich vom Fleck wegzubewegen.
Kapitel 45
Katey hatte zugestimmt, noch ein wenig zu bleiben, wünschte sich aber augenblicklich, sie hätte es nicht getan. Anthony kam nicht gleich zum Punkt, sondern erhob sich vom Tisch und lief zu James' Schreibtisch, der ihm jetzt diente, da er auf dieser Fahrt der Maiden George als Kapitän vorstand. Er schenkte sich ein Glas Branntwein ein und trank es in einem Zuge aus. Anschließend lief er zwischen Schreibtisch und Esstisch auf und ab.
Seine Nervosität war förmlich zum Greifen und sprang sogleich auf Katey über. Sie wollte gerade aufstehen und mit einem lauten »Gute Nacht« in ihre Kajüte entschwinden, als Anthony sie mit einem durchdringenden Blick fixierte. Welch schöne Augen er hatte. Pures Kobaltblau und ein fesselnder Ausdruck. Sie waren leicht mandelförmig, was sich aber nur auf den zweiten Blick erschloss.
»Seien Sie so lieb und erzählen Sie mir mehr über den Mann, der Sie großgezogen hat«, hob Anthony an.
Sie blinzelte. Wie eigenartig, dass er sich für ihren Vater interessierte. »Meinen Vater?«
»Ja.«
O Gott, er wollte einfach nur ihre Familiengeschichte hören? »Was würden Sie denn gern wissen?«
»Was für ein Mensch war er?«
»Nett, großzügig, stets gut gelaunt und sehr, sehr geschwätzig.« Sie lächelte. »Letzteres ist nicht weiter verwunderlich. Er hat seine Kundschaft mit Klatsch und Tratsch bei Laune gehalten.«
»Standen Sie ihm nahe?«
Sie dachte einen Moment nach, ehe sie einräumte: »Eigentlich nicht. Er starb, als ich gerade mal zehn war, weshalb ich nur wenige herausragende Erinnerungen an ihn habe. Außerdem war er kaum zu Hause und verbrachte die meiste Zeit in seinem Laden. Er hat ihn ganz allein geführt. Es war ein kleiner Laden in einem sehr kleinen Dorf. Da es der einzige Treffpunkt für die Bewohner von Gardener war, hatte er bis spät abends geöffnet. Wenn ich außer an Sonntagen Zeit mit ihm verbringen wollte, war ich gezwungen, ihn im Laden zu besuchen. Meistens war ich schon im Bett, als er nach Hause kam.«
»Mit anderen Worten, Sie kannten ihn nur flüchtig.«
»Das würde ich wiederum nicht sagen. Ich kannte ihn so gut, wie jedes andere Kind in meinem Alter seine Eltern kennt. Ich liebte ihn und er liebte mich. Wenn er mich sah, lächelte er mich immer an oder schloss mich in die Arme. Aber es stimmt, meiner Mutter stand ich um einiges näher. Mit ihr habe ich viele Stunden am Tag verbracht. Entweder habe ich ihr im Garten geholfen oder in der Küche und bei der Hausarbeit.«
»Sie haben in der Küche geholfen?«
Es klang, als spie er die Worte aus, weil sie ihm nicht von allein über die Zunge rutschen wollten. Wie eigenartig. Was spielte es für eine Rolle, wo sie gearbeitet hatte? Doch er war eben ein Lord. In seiner Welt verrichtete lediglich das Gesinde niedere Arbeiten.
Sie kicherte, als ihr das klar wurde. »In Gardener gab es keine Bediensteten, Sir Anthony. Auch wenn meine Familie sie sich durchaus hätte leisten können, wollte meine Mutter, dass wir uns nicht von den anderen unterschieden. Davon abgesehen liebte sie die Hausarbeit, genau wie ich es mochte, sie gemeinsam mit ihr zu erledigen. Außerdem gab es nicht viel anderes in dem verschlafenen Nest zu tun. Grace hat sie erst angeheuert, als
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