Malory 09 - Der geheimnisvolle Verführer
Mrs. Cartley gegenüber etwas davon zu erwähnen, dass die Katze auf ihrem Dach gesessen hatte, habe ich ihr erzählt, sie hätte miauend auf unserem Dach gehockt, das um einiges höher war, weil wir ein Stockwerk mehr hatten, und dass unsere Magd unter Einsatz ihres Lebens auf die Eiche neben unserem Haus geklettert sei, um sie zu retten. Grace wurde als richtige Heldin gefeiert, und ich lüge nicht, wenn ich sage, dass sie die viele Aufmerksamkeit genossen hat. Und die Dorfbewohner waren froh, dass sie mal ein neues Gesprächsthema hatten, statt sich immer nur über das Wetter zu unterhalten.«
»Klingt wie mein Cousin Derek, der behauptet, er hätte einen zwei Ellen langen Fisch gefangen. Seine Frau hat uns später erzählt, er wäre gerade mal eine halbe Elle lang gewesen. Die Geschichte war spannender, als wir alle noch an den großen Fisch geglaubt haben, aber später, als wir die Wahrheit erfahren haben, haben wir herzlich darüber gelacht. Ist das die Art von Geschichten, die Sie erzählt haben?«
»Ja und nein. Als ich ungefähr in deinem Alter war, fing ich damit an, Erlebtes oder Gesehenes ein wenig auszuschmücken. In dem Jahr hatte ich ein schreckliches Erlebnis. Ich dachte, ich würde in Danbury zur Schule gehen, wo ich endlich andere Kinder in meinem Alter kennenlernen würde, auch wenn das bedeutete, dass ich jeden Tag mehrere Stunden auf dem Rücken meines Ponys verbringen müsste. Ein Jahr zuvor aber hatte sich ein alter Professor in Gardener niedergelassen, und meiner Mutter war es gelungen, ihn dazu überreden, mich zu unterrichten. Als ich eines Tages dabei war, Pastetenteig für das Abendessen auszurollen, beobachtete ich, wie ein Fremder Tomaten aus dem Garten meiner Mutter stibitze. Ich fand es nicht weiter schlimm und dachte mir, er hätte großen Hunger. Als meine Mutter in die Küche zurückkam, hatte ich Angst, sie könnte mich für die fehlenden Tomaten verantwortlich machen, weil ich ihr noch immer gram war, dass ich nicht nach Danbury in die Schule gehen durfte, und habe ihr kurzerhand erzählt, ich hätte den Dieb mit dem Nudelholz vertrieben.«
»Sie haben in der Küche gearbeitet?«, warf Judith ein. »Ich wünschte, ich dürfte das auch, aber immer, wenn ich unsere Köchin frage, steckt sie mir etwas Süßes zu und sagt, ich solle mich trollen.«
Es amüsierte Katey, dass die Kleine sich mehr für die Küchenarbeit als für den Dieb interessierte. »Da wir nur eine Magd hatten«, sagte sie und deutete mit dem Kopf auf ihre schlafende Begleiterin, »haben wir die anfallenden Aufgaben aufgeteilt.«
»Hätte Ihre Mutter die Handvoll fehlender Tomaten denn wirklich bemerkt?«, wollte Judith wissen.
»O ja, sie wusste immer genau, wie viele Tomaten an welcher Pflanze hingen und wie viele gepflückt werden konnten. Sie liebte ihren Garten. Vermutlich habe ich die Liebe für Pflanzen von ihr geerbt. Es geht auf keine Kuhhaut, wie viel Zeit wir gemeinsam hinterm Haus verbracht haben.«
Das Mädchen merkte nicht, dass Katey plötzlich von einer Woge der Melancholie mitgerissen wurde. Sie vermisste ihre Mutter so sehr, dass es schmerzte. Manchmal konnte sie noch immer nicht fassen, dass Adeline durch einen dummen Unfall – sie war auf einer vereisten Pfütze ausgerutscht – im letzten Winter ums Leben gekommen war.
Judith stieß einen Seufzer aus. »Ich wünschte, wir hätten auch einen Gemüsegarten. Mein Onkel Jason besitzt eine Reihe von Höfen, wo das ganze Jahr über Gemüse in Gewächshäusern angebaut wird. In unserem Garten in der Stadt wachsen lediglich Blumen. Die Köchin geht immer zum Markt, um dort einzukaufen.«
Es war schon eigenartig, wie das Mädchen bestimmte Pflichten mit Neid betrachtete, ein anderes Kind sie als Belästigung empfand und ein drittes sie als willkommene Abwechslung zum eintönigen Alltag ansah.
»Sie haben also Ihre Mutter angeschwindelt?«, hakte Judith noch einmal nach.
Judiths Worte trieben Katey die Röte ins Gesicht. »Ich musste ihr doch von dem Dieb erzählen. Schließlich war er echt. Ich wollte lediglich vermeiden, dass sie erfuhr, wie ich tatenlos mit angesehen hatte, wie sich ein Fremder an unserem Hab und Gut bereicherte. Das Ganze hat einen ziemlichen Aufruhr nach sich gezogen. Tagelang haben die Männer Jagd auf den Unbekannten gemacht. Du hättest mal sehen müssen, wie das Dorf auf einmal zum Leben erwachte. Fast ein halbes Jahr lang haben sie über nichts anderes mehr gesprochen. Und obwohl mir meine Mutter eine Standpredigt
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