Malory 09 - Der geheimnisvolle Verführer
ich wieder aufgewacht bin, lag ich gefesselt auf dem Boden einer alten Kutsche. Und dann wurde ich in das Zimmer dort drüben getragen.«
»Sie haben dich entführt?« Katey schnappte nach Luft.
»Die Frau hat es getan. Der Mann könnte der Cousin meiner Mutter sein. Ich glaube, sie hat mal von einem Cousin erzählt, der ihr große Probleme bereitet hat. Aber das war, bevor ich auf die Welt gekommen bin. Ihn trifft keine Schuld, wenn ich es richtig verstehe. Im Gegenteil, als er erfahren hat, was seine Frau getan hat, wollte er mich auf dem schnellsten Weg wieder nach London bringen. Er scheint große Angst vor meinem Vater zu haben und was der mit ihm anstellen wird, wenn er ihn in die Finger bekommt. Aber die Frau hat sich geweigert, mich gehen zu lassen. Sie hat es auf das Lösegeld abgesehen. Mir scheint es, als hätte sie die Hosen an.«
Dass ein Verwandter des Mädchens im Spiel sein sollte, machte Katey abermals stutzig. Hätte er zugelassen, dass dem Mädchen etwas zustößt? Auf der anderen Seite hatte er ihm nicht die Fesseln gelöst, geschweige denn, ihm etwas zu essen gegeben!
Als sie abermals zu dem Mädchen blickte, das noch immer mit sich selbst um die Wette kaute, lösten sich mit einem Mal sämtliche Zweifel in Luft auf. Wie konnten diese Unholde es wagen, ein Kind so schlecht zu behandeln!
»Ich werde dafür sorgen, dass du wieder nach Hause kommst«, sagte Katey mit einem ermutigenden Lächeln. »Ich bin ohnehin auf dem Weg nach London. Wir machen uns gleich morgen früh auf den Weg und …«
»Ich flehe Sie an, können wir nicht jetzt fahren?«, unterbrach das Mädchen sie mit verängstigter Miene. »Ich möchte nicht, dass sie mich finden. Ich habe gehört, wie sie gesagt haben, das Schloss an der Tür sei defekt, als sie mich an das Bett gefesselt haben. Sie werden wissen, dass mir jemand zu Hilfe gekommen ist.«
»Und sie sind direkt im Nebenzimmer«, warf Katey mit einem Nicken ein. »Nun gut, wir werden noch heute Nacht abreisen.«
Kapitel 4
Grace Harford, Kateys Magd, war nicht sonderlich begeistert, als sie erfuhr, dass sie noch vor der Dämmerung aufbrechen sollten. Da sie um Kateys Hang wusste, gelegentlich zu dick aufzutragen, glaubte sie ihrer Herrin kein Wort, als diese ihr erklärte, weshalb sie das Gasthaus in Begleitung eines Mädchens in aller Herrgottsfrühe verlassen würden. Hatten sie nicht die Nichten von Kateys Nachbarn den langen Weg nach England und weiter in den Norden begleitet? Hatte nicht der Besitzer eines Rasthauses in Schottland Katey gebeten, seinen jungen Sohn zu seiner Mutter in Aberdeen zu bringen, als er gehört hatte, dass sie auf dem Weg dorthin waren? Ein Blick auf Katey Tyler mit ihren riesigen grünen Augen, ihren Grübchen und ihrem gewinnenden Lächeln genügte, und die Menschen vertrauten ihr, vertrauten ihr sogar ihre Kinder an. Das Mädchen, das sich als Judith Malory vorgestellt hatte, war nur ein weiteres Kind von vielen, das für die Dauer einer Reise in die Obhut von Katey gegeben worden war. Für Grace stand fest, dass nicht mehr und nicht weniger an der Sache dran war.
Es stimmte, die Menschen schlössen Katey sofort ins Herz. Weshalb, das entzog sich jedoch bis heute Kateys Wissen. Bislang hatte sie noch keinen Gedanken daran verschwendet, dass es an ihrer ausnehmenden Schönheit liegen konnte. Ihre Mutter – sie hatte ebenfalls rabenschwarzes Haar und smaragdgrüne Augen gehabt – war nicht minder hübsch gewesen. Katey war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, ein Umstand, der während ihrer Jugend aber wenig Beachtung gefunden hatte, weshalb auch sie selbst diesem Aspekt nie große Beachtung geschenkt hatte. In ihren Augen war Grace mit ihren unzähligen Sommersprossen und dem lockigen roten Haar weitaus interessanter als sie.
Mit ihren eins fünfundsiebzig war Katey verhältnismäßig groß. Als ihr Vater starb – sie zählte seinerzeit gerade mal zehn Lenze –, war sie bereits so groß wie er und seitdem noch weiter in die Höhe geschossen. Ihre Mutter Adeline hatte sie um ganze zehn Zentimeter übertroffen, als sie ausgewachsen war.
Katey verschwendete kaum einen Gedanken an ihre Größe, es sei denn, sie befand sich in der Gegenwart eines Mannes, der kleiner war als sie, was glücklicherweise nicht allzu oft vorkam. Was ihr schwerer zu schaffen machte als ihre Größe, waren ihre üppigen Rundungen. Ihr war bereits zu Ohren gekommen, dass Männer sie als hübsches, dralles Ding bezeichneten. Wie viele Male hatte sie
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