Malory 09 - Der geheimnisvolle Verführer
gemacht hatte, hatte dieser am Rande eines Nervenzusammenbruchs gestanden. Doch Boyd war darauf bereits vorbereitet gewesen. Seine Bediensteten hatten ihm davon berichtet, wie aufgelöst ihr Dienstherr war. Sie hatten das Pferd seiner Tochter auf der anderen Seite des Parks gefunden und befürchtet, sie könne verletzt oder gar leblos im Dickicht liegen.
Malory hatte Boyd nicht einmal die Gelegenheit gegeben, ihm zu sagen, dass er Neuigkeiten hatte. Er hatte Boyd quasi vom Pferd gezerrt, ihn am Revers gepackt und ihn geschüttelt. Malory war knapp zwanzig Zentimeter größer als Boyd, wodurch es ihm nicht sonderlich schwergefallen war.
»Wo ist die Armee, die du mitbringen solltest?«, hatte er ihn angeschrien. »Ich weiß genau, dass mein Bruder über mindestens ein halbes Dutzend männlicher Bediensteter verfügt.«
Für gewöhnlich hätte Boyd sich ein derartiges Verhalten nicht gefallen lassen und seinem Gegenüber längst mit Schlägen gedroht – eine schlechte Angewohnheit, die er sich als jüngster von fünf Brüdern angeeignet hatte. Ein ums andere Mal hatte er sich als Kind mithilfe seiner Fäuste Gehör verschaffen müssen. Doch er hatte Mitleid mit Anthony und wusste aus eigener Erfahrung, wie furchtbar es war, vor Sorge um ein Familienmitglied schier zu vergehen.
In dem Wissen, was der Mann gerade durchmachte, hatte Boyd erst gar keinen Versuch unternommen, ihm die Sachlage zu erklären, sondern ihm nur wortlos die anonyme Nachricht unter die Nase gehalten. Als Anthony vollkommen unerwartet von ihm abgelassen hatte, wäre Boyd fast zu Boden gegangen.
Als Anthony die Zeilen studiert hatte, hatte sich eine eigenartige Stille über ihn gesenkt. Obwohl, im Grunde war es nicht eigenartig gewesen. Während die Andersons dazu neigten, laut zu werden, wenn sie vor Wut kochten, tendierten die Malorys zum Gegenteil. Sobald sie sich in Schweigen hüllten, war äußerste Vorsicht geboten.
»Geld?«, hatte Anthony gesagt und den Blick gehoben. »Sie lehren meine Tochter das Fürchten und treiben mich in den Wahnsinn, weil sie Geld wollen? Sie können meinetwegen so viel haben, wie sie wollen, aber dafür ziehe ich ihnen bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren.«
Das war Anthonys erste Reaktion auf das Schreiben gewesen. Den Rest des Tages hatte er damit verbracht, seine weinende Gemahlin zu besänftigen, indem er ihr versicherte, dass es Judith bestimmt gut gehe, jetzt, da sichergestellt sei, dass sie nicht vom Pferd gefallen war. Es zerrte jedoch an den Nerven aller Beteiligten, auf die nächste Nachricht der Entführer warten zu müssen. Um zur Stelle zu sein, hatte Boyd entschieden, Anthony und seiner Gemahlin vorerst Gesellschaft zu leisten.
»Mir wäre es lieber, Jacqueline erführe erst von dieser Geschichte, wenn Judith wieder in Sicherheit ist«, hatte er ihnen erklärt. »Da ich sie nur ungern anlügen möchte, ziehe ich es vor, mich solange von ihr fernzuhalten. Hättet ihr etwas dagegen, wenn ich die Nacht bei euch verbringe?«
Zu dem Zeitpunkt war Anthony bereits außer sich, so sehr hatte ihn die elende Warterei zermürbt. Die Ereignisse hatten ihm so sehr zugesetzt, dass er sogar das Abendessen hatte ausfallen lassen. Boyd war es nicht anders ergangen. Er hatte sich in den Salon zurückgezogen und sich am Brandy vergriffen, bis er auf einem der vielen Sofas im Vollrausch eingeschlafen war.
Jetzt, am nächsten Morgen, rissen ihn unsanft Stimmen aus einem lieblichen Traum – einem Traum, in dem es mal wieder um seine Katey ging. Es war eigenartig, aber in seinen Träumen waren seine Gedanken an Katey Tyler stets angenehmer Natur.
Dieses Mal hatte er inmitten einer Wiese voller Gänseblümchen gestanden. Er kannte die Wiese, er hatte einst ein verletztes Reh auf ihr gefunden. Sie befand sich in unmittelbarer Nähe seines Hauses in Connecticut. In seinem Traum hatte er eine verletzte Möwe entdeckt; einen Vogel, den er von nun an stets mit Katey in Verbindung bringen würde. Er hatte sich gerade über das verletzte Tier gebeugt, um es zu untersuchen, als er sah, wie sie, eingerahmt von gleißendem Sonnenlicht, frohgemut auf ihn zulief.
Auf dem Arm hatte sie einen kleinen Hasen getragen, und auf ihrer Schulter hatte ein Eichhörnchen gesessen. Letztere konnten zuweilen recht garstig sein, doch er hatte gespürt, dass das Tier ihr nichts antun würde. Die Tatsache, dass sie eine ausgewiesene Tierfreundin war, hatte ihn von Anfang an tief berührt.
Plötzlich machte sein Traum einen Sprung,
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