Malory 09 - Der geheimnisvolle Verführer
wiederum heißt, dass ich nie geboren worden wäre.«
Judith bedachte sie mit einem Blick, der sagte: Bitte sprechen Sie nicht mit mir, als wäre ich ein Kind. Katey hätte um ein Haar laut losgelacht. Das Mädchen schien für ihr Alter ausgesprochen gescheit zu sein.
»Er ist hierhergekommen, um ein Geschäft zu eröffnen?«, wollte Judith als Nächstes wissen.
»Nein, ich glaube nicht, dass er je mit dem Gedanken gespielt hat. In Danbury hatte er alle Lieferanten, die ihn mit den gängigsten Waren belieferten. Er ist nach England gereist, um exotischere Waren ausfindig zu machen. Und dabei hat er meine Mutter kennengelernt. Sie ist mit ihm fortgelaufen, hat quasi alle Brücken hinter sich abgebrochen und ihre englischen Verwandten nie wiedergesehen.«
»Dachte ich mir doch, dass Sie einen Akzent haben.« Judith grinste. »Seit Kurzem habe ich auch amerikanische Verwandte. Aber wie kam es, dass Ihre Mutter nach dem Tod Ihres Vaters nicht nach England zurückgekehrt ist?«
Katey seufzte innerlich. Wie oft hatte sie sich gewünscht, dass ihre Mutter genau das tat? Der Wunsch war so groß gewesen, dass sie das Thema mindestens einmal im Jahr auf den Tisch gebracht hatte. Doch Adeline Tyler hatte nichts als blanken Hass für ihre eigene Familie empfunden und sich bis zu ihrem Tode geweigert, je wieder einen Fuß auf englischen Boden zu setzen. Hinzu kam, dass sie die Leitung des Geschäfts übernommen hatte und ihr die Arbeit viel Freude bereitete. Sie weidete sich an dem Gedanken, dass sie jetzt selbst den von ihrer Familie so verhassten Handel trieb. Nicht, dass die Millards, so hieß ihre Familie, je davon erfahren hätten, aber innerlich hatte sie immer triumphiert.
An das neugierige Mädchen an ihrer Seite gewandt, sagte Katey: »Als die Familie meine Mutter verstoßen hat, hat sie dasselbe mit ihren Angehörigen getan. Ich glaube, dass sie England deshalb so gehasst hat.«
Judith nickte. »Aber was hat das alles damit zu tun, dass Ihre Magd Ihnen nicht glaubt?«
Katey kicherte. Sie war davon ausgegangen, dass das Mädchen ihre ursprüngliche Frage längst vergessen hatte. Da das jedoch nicht der Fall war, fragte sie sie: »War dir je sterbenslangweilig, weil ein Tag dem anderen gleicht und nie etwas Spannendes passiert?«
»Nein, nie«, kam Judiths prompte Antwort.
»Dann solltest du dich glücklich schätzen. So ähnlich sahen nämlich meine Kindheit und meine Jugend in Gardener aus. Und ich war nicht die Einzige, die morgens die Augen aufschlug in dem Wissen, dass es nichts gab, worauf man sich freuen konnte. Die zurückgebliebenen Dorfbewohner waren allesamt alt und führten ein eher eintöniges Leben. Es schien ihnen nichts auszumachen, aber wenn etwas Aufregendes passierte, wollten sie natürlich davon hören. So kam es, dass ich sie hin und wieder mit aufregenden Geschichten unterhalten habe.«
»Sie haben ihnen Lügenmärchen aufgetischt?«
Katey blinzelte. Das Kind war nicht nur hübsch, sondern auch blitzgescheit. Und obwohl Katey sich nicht vorstellen konnte, mit einem Wildfremden über derartige Dinge zu sprechen, spürte sie eine unerklärliche Verbundenheit mit diesem Mädchen – vermutlich, weil sie das erste richtige Abenteuer ihrer großen Reise miteinander teilten.
»Grundgütiger, ich habe es nie als Lügen betrachtet. Ich habe lediglich die Wahrheit, Dinge, die mir passiert sind, ein wenig ausgeschmückt und interessanter gemacht. Als ich zum Beispiel Mrs. Cartleys Katze auf dem Scheunendach entdeckt habe, hatte ich den Eindruck, sie säße fest und traue sich nicht, wieder nach unten zu klettern. Da ich Tiere über alles liebe, stand es für mich außer Frage, die Katze ihrem Schicksal zu überlassen. Außerdem wusste ich, dass die Cartleys an dem Tag nicht zu Hause waren, weil sie ihrer Tochter in Danbury einen Besuch abstatteten, und erst am Abend wieder zurückkommen würden. Also bin ich kurzerhand Mrs. Cartleys Rosenspalier hinaufgeklettert. Als ich jedoch auf dem Dach ankam, war die Katze nicht mehr dort.«
»Hat sie doch noch den Mut gefunden, herunterzuspringen?«
»Nein.« Katey kicherte. »Sie ist auf demselben Weg nach unten geklettert, wie sie heraufgekommen ist. Über eine Leiter! Mir war vollkommen entfallen, dass Mr. Cartley zu Beginn der Woche mit der Reparatur des Dachs begonnen hatte. Er hatte die Leiter am Haus angelehnt stehen lassen. Vorbei war es mit der Spannung, die sich in meinem Innern aufgebaut hatte. Du glaubst gar nicht, wie aufgeregt ich war. Statt
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