Malory
schläfrig geworden waren. Sir William, den sie mehr oder weniger adoptiert hatten, schnarchte laut unter Marias Wagen.
Anastasia hatte ihn in der kurzen Zeit, in der sie ihn kannte, ins Herz geschlossen. Sie fand ihn ein wenig lächerlich mit seiner höfischen Art, seinem steifen Benehmen und den meist erfolgreichen Bemühungen, Maria ein wenig aufzuheitern. Aber es war nichts Lä-
cherliches an der aufrichtigen Verehrung, die er Anastasias Großmutter entgegenbrachte; diese Verehrung stand außer Zweifel.
Oft neckte sie Maria damit. Es sei doch ein Jammer, daß sie nun für eine Romanze zu alt sei, worauf die Großmutter für gewöhnlich mit einem Kichern, Augenzwinkern oder der Bemerkung reagierte: »Für die Liebe ist man nie zu alt. Das Liebemachen, nun, das steht auf einem anderen Blatt. Einige Knochen sind für eine so hübsche Betätigung wohl ein wenig zu morsch geworden.«
Liebe und Liebemachen waren kein Thema, über das man flüsternd hinter vorgehaltener Hand sprach. Ihre Leute redeten offen und leidenschaftlich über alle Dinge, die sie als natürlich betrachteten, und was konnte natürlicher sein als die Liebe und das Liebemachen?
Das Liebemachen wurde Anastasia vor Augen geführt, als sie beobachtete, wie ihr zukünftiger Ehemann seine jetzige Geliebte zu seinem Wagen stieß und sehr un-sanft mit ihr umging, als sie stolperte und zu Boden fiel. Er packte sie an den Haaren, stellte sie wieder auf die Beine und stieß sie weiter. Anastasia schauderte.
Nicolai war roh und gemein. Sie hatte seine grobe Hand oft zu spüren bekommen, wenn er sie für ihre Widerreden tadelte. Und das war der Mann, den sie heiraten sollte.
Maria bemerkte, wie ihre Enkelin schaudernd zusam-menzuckte. »Stört es dich, daß er mit anderen schläft?«
»Ich wünschte, das wäre so, Großmama, dann würde mir meine Zukunft nicht so hoffnungslos erscheinen.
Meiner Meinung nach ist ihm jede Frau recht, obwohl ich nicht verstehe, wieso sich alle diese Gemeinheiten von ihm gefallen lassen.«
Maria hob die Achseln. »Das Ansehen, von Iwans ein-zigem Sohn erwählt worden zu sein, spielt eine große Rolle.«
Anastasia schnaubte entrüstet. »Diese Gunst bringt ihnen nichts als Leid und Schmerz. Ich habe gehört, er sei nicht einmal ein guter Liebhaber. Er kümmert sich nur um sein Vergnügen und läßt die Frau leer ausgehen.«
»Egoistische Männer wie ihn gibt es viele. Sein Vater war auch so.«
Anastasia schmunzelte. »Weißt du das aus eigener Erfahrung, Großmama?«
»Pah, Iwan wäre überglücklich gewesen. Nein, der barossan und ich standen im besten Einvernehmen miteinander. Er wußte, daß er mich nicht bekommen würde.
Das Begehren in seinen Augen erlosch, und ich versprach ihm dafür, ihn nicht bis zum Ende seiner Tage zu verwünschen.«
Anastasia lachte. »Ja, da konnte ein Mann schon ein bißchen vorsichtig werden.«
Ein Lächeln huschte über Marias Gesicht, aber dann wurde sie ernst. Sie ergriff Anastasias Hand und umschloß sie mit ihren gichtigen Fingern. Die junge Frau spürte, wie sie sich innerlich verkrampfte. Sie empfand diese Geste wie eine Vorwarnung. Maria hielt ihre Hand nur, wenn sie eine schlechte Nachricht verkündete. Anastasia hatte keine Ahnung, um was es sich handelte, trotzdem hielt sie den Atem ängstlich an, denn eine schlechte Nachricht war bei Maria immer sehr, sehr schlecht, beinahe eine Katastrophe.
Kapitel Elf
V or wenigen Monaten erst war Anastasia achtzehn geworden. Damit war sie zum Heiraten bereits viel zu alt. Zwölf galt bei ihrem Volk als angemessenes Alter.
Einige der Frauen verfolgten sie mit gnadenlosem Spott, weil sie die Berührung eines Mannes noch nicht kannte. Wie dumm, die besten Jahre zu vergeuden.
Wie töricht, sich nicht zusätzlich ein paar Minuten von den Gajos für ein kurzes Techtelmechtel zu verdienen.
Das war nur eine weitere Spielart, sie auszunehmen. Es bedeutete nichts. Kein Ehemann oder Verlobter wür-de deswegen eifersüchtig sein; ja, er erwartete es sogar.
Nur wenn der Ehemann seine Frau erwischte, wie sie einem anderen aus der Gruppe schöne Augen machte, hatte das ernste Folgen: Scheidung, Schläge, manchmal mit Todesfolge, oder – in ihren Augen das Schlimmste – verstoßen zu werden.
Jedesmal, wenn Anastasia mit Maria über die Männer und die Liebe sprach oder ihr erklärte, daß sie die Vorstellung abscheulich fand, von einer Männerhand zur nächsten und übernächsten weitergereicht zu werden, schob Maria die Schuld dem Erbe ihres
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