Malory
wurden groß – das wäre ihr niemals eingefallen. »Jemand anderes heiraten? Aber wie kann ich das, wenn ich gekauft und bezahlt wurde?«
»Einen anderen aus unserer Gruppe heiraten? Nein, das kannst du nicht. Für Iwan wäre das die größte Beleidigung. Auch Nicolai würde diese Zurückweisung nicht dulden. Er würde den Mann töten, den du dir aussuchst. Bei einem Gajo hingegen wäre das eine völlig andere Sache.«
»Ein Gajo’?« fragte Anastasia ungläubig. »Ein Außenseiter, nicht von unserem Blut? Wie kannst du das überhaupt vorschlagen?«
»Wieso nicht, mein Kind, wenn dies deine einzige Möglichkeit ist – es sei denn, du möchtest den Rest deines Lebens unter Nicolais Knute verbringen?«
Wie vorhin schauderte es Anastasia. Sie hatte es schon lange vorher gewußt, daß sie ihre Gruppe eher verlassen würde, als sich Nicolai zu unterwerfen. Sie wählte das kleinere Übel. Sie würde weggehen.
Anastasia seufzte. »Ich nehme an, du hast einen Plan, Großmama? Bitte, sag mir, was ich tun soll.«
Mit einem liebevollen Lächeln tätschelte die alte Frau ihre Hand. »Natürlich habe ich einen Plan, noch dazu einen ganz einfachen. Du mußt einem Gajo den Kopf verdrehen, damit er dich bittet, ihn zu heiraten. Dann mußt du uns alle davon überzeugen, daß du ihn liebst.
Die Liebe wird in deinem Fall ausschlaggebend sein -
um der Liebe willen kann man sein Volk verraten und alles, woran man glaubt. Das ist verständlich und annehmbar. Du mußt aber überzeugend wirken. Merkt man, daß du es nur tust, um eine Heirat mit Nicolai zu vermeiden, dann ist das eine Beleidigung für die Lautarus. Du wirst so handeln wie deine Mutter. Sie liebte ihren Gajo aufrichtig. Bei dir wird es eine Lüge sein, aber eine Lüge, um einer unerträglichen Zukunft zu entkommen. Und vielleicht, wenn du Glück hast, wird es keine Lüge bleiben.«
In die Fußstapfen ihrer Mutter treten? Marias Tochter, Anastasias Mutter, hatte sich in einen russischen Boja-ren verliebt, einen hohen Adeligen. Sie starb bei der Geburt seines Kindes. Er hätte das Kind behalten, wenn es ein Sohn gewesen wäre. Für eine Tochter hatte er keine Verwendung, und so nahm Maria ihre Enkeltochter in Obhut und zog sie groß.
Anastasia hatte ihren Vater weder kennengelernt noch jemals den Wunsch danach verspürt. Sie wußte nicht einmal, ob er noch am Leben war. Es war ihr gleichgültig. Ein Mensch, dem sie nichts bedeutete, war für sie wertlos. Und wenn sie in einem Winkel ihres Herzens darüber verbittert war, daß er sie abgewiesen hatte, so behielt sie das für sich.
Maria wußte natürlich, wie ihr zumute war. Maria wußte alles. Wenn sie in die Augen eines Menschen blickte, wußte sie, wie es in seinem Herzen aussah.
Nichts konnte vor Maria verborgen bleiben. Aber Maria hatte nicht immer eine Antwort auf alle Fragen bereit. In diesem Fall schob sie stets den Russen als bequeme Entschuldigung vor.
Das tat sie jetzt wieder. »Du bist anders als wir. Du hast das Erbe deines Vaters in dir. Aber das ist nichts Schlechtes. Du hast nie gestohlen, nie einem Gajo Lü-
gen erzählt, um ihn um ein paar Münzen zu erleich-tern. Für uns ist dies etwas ganz Natürliches, und wir brüsten uns damit, die Gajos zum Narren zu halten. Du aber tadelst ein solches Verhalten. In diesem Punkt bist du die Tochter deines Vaters, zu edel in der Gesin-nung, um etwas zu tun, was unter deiner Würde ist.
Ich habe nie versucht, dir das auszutreiben oder dich etwas anderes zu lehren. Es ist gut, Eigenschaften von beiden Elternteilen zu haben, wenn dir die Eltern gute Eigenschaften mitgegeben haben.«
»Ich wollte nie anders sein.«
»Ich weiß«, sagte Maria leise. »Und man kann nicht ändern, was einem angeboren ist.«
»Aber wird Iwan nicht drohen, mich umzubringen, wenn ich weggehe, so wie er es bei meiner Mutter getan hat?«
»Nein, dieses Mal nicht. Ich werde ihn davon überzeugen, daß ihm dein gebrochenes Herz eher Unheil als Glück bringt, wenn er dich von deinem Liebsten trennt. Ich werde ihn auch darauf hinweisen, daß du dich jederzeit von deinem Gajo scheiden lassen und zur Gruppe zurückkehren kannst. Und das ist tatsächlich ein Ausweg, Anna, vergiß dies also nicht, wenn du mit deiner Wahl nicht glücklich wirst. Solltest du zu-rückkehren, dann brauchst du dir um Nicolai keine Sorgen mehr zu machen. Deine Heirat mit einem Gajo bricht den Vertrag mit den Lautarus. Du kannst dann tun, was dir beliebt, und heiraten, wen du willst. Wiederum kannst du die
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