Malory
Vaters zu. Mit den Jahren schrieb sie viele Eigenschaften ihrem Vater zu, schlechte wie gute. Maria hatte ihn als wunderba-ren Sündenbock entdeckt, wenn sie auf Anastasias Fragen um eine Antwort verlegen war.
Viele Dinge schwirrten Anastasia im Augenblick durch den Kopf, während sie darauf wartete, daß Maria sprach. Anastasia vermied es, Vermutungen anzustel-len. Wenn sie gründlich nachdachte, würde sie es wahrscheinlich erraten, aber sie wollte es nicht wissen, noch nicht. Das anhaltende Schweigen wirkte wie Bal-sam, enthielt es doch kein Unheil. Aber es dauerte zu lange. Eine unangenehme Spannung schlich sich ein, die langsam unerträglich wurde.
Schließlich konnte es Anastasia nicht länger aushalten und platzte heraus: »Was ist es, Großmama, was möchtest du mir sagen?«
Sie seufzte, kurz und aus tiefster Seele. »Etwas, das ich viel zu lange zurückgehalten habe, mein Kind. Eigentlich sind es zwei Dinge, die dir großen Kummer machen werden. Aber du bist stark genug, um damit fertig zu werden. Die plötzliche Veränderung, die in dein Leben treten wird, macht mir die meisten Sorgen, und daher möchte ich, daß es bald geschieht, solange ich noch hier bin, um dir beizustehen.«
»Hast du etwas vorausgesehen?«
Betrübt schüttelte Maria den Kopf. »Ich wünschte nur, ich würde die Zukunft in diesem Fall kennen. Aber dein Schicksal liegt in deinen Händen, und die Entscheidung, die du triffst, wird zu deinem Guten oder Schlechten sein, aber du mußt sie treffen. Alles andere, das hast du selbst gesagt, ist undenkbar.«
Anastasia wußte nun, wieso Maria so lange geschwie-gen hatte. Es ging um ihre Ehe, oder besser, um den Mann, den sie heiraten würde. »Es geht um Nicolai?«
»Es geht um deine Verheiratung. Ja. Ich muß darauf dringen, daß du dich in dieser Woche entscheidest. Du kannst nicht länger warten.«
Anastasia geriet in Panik. »Aber der Tag, den du festgesetzt hast, ist erst in zwei Monaten.«
»Bis dahin kann es nicht mehr warten.«
»Aber du weißt, ich verabscheue ihn, Großmama!«
»Ja, wenn du das gewußt hättest, bevor ich den Preis für dich als Baut annahm, hättest du längst einen anderen heiraten können. Aber Iwan, dieser listige Fuchs, kam zu mir, als du erst sieben warst, fünf Jahre vor deinem heiratsfähigen Alter, lange bevor dir bewußt sein konnte, daß Nicolai dir nicht gefallen würde. Iwan wollte eben sichergehen, daß ihm keiner zuvorkam.«
»Ich war zu jung«, sagte Anastasia kopfschüttelnd. »Ich kann diese Eile nicht verstehen. Er hätte doch warten können, bis ich alt genug war, um selbst zu entscheiden.«
»Gewiß, aber wir besuchten zu der Zeit eine andere Gruppe, und deren barossan zeigte auffallendes Interesse an deiner Familie und stellte zu viele Fragen über dich. Iwan war kein Narr. Noch an diesem Abend hielt er für seinen Sohn um deine Hand an. Der andere barossan tat dies am nächsten Morgen, ein paar Stunden zu spät. Iwan freute sich jahrelang darüber.«
»Ja, das habe ich mitbekommen.«
»Tja, nun hat seine Schadenfreude aber ein Ende. Er hat sich immer vieler Listen bedient, um mich und die Meinen an seine Gruppe zu binden, weil wir über die Gabe des Hellsehens verfügen. Ich habe dir nie davon erzählt, aber als deine Mutter verkündete, daß sie mit ihrem Gajo zusammenleben würde, kam Iwan zu mir und drohte sie zu töten, bevor sie ihr Talent an Fremde vergeudet, die nicht unser Blut haben – es sei denn, ich wäre damit einverstanden, noch ein Kind zu gebären, um sie zu ersetzen. Damals war ich jedoch schon längst über die Zeit hinaus, um noch ein Kind zu empfangen, aber kümmerte das diesen Trottel?«
»Vermutlich mußtest du einwilligen?«
»Selbstverständlich.« Maria grinste. »Ich hatte nie Hemmungen, Iwan Lautaru zu belügen.«
»Hat er dir deswegen sehr zugesetzt?«
»Nein. Das war nicht nötig. Sehr bald darauf haben wir erfahren, daß deine Mutter schwanger mit dir war, und Iwan rechnete fest damit, daß sie mit ihrem Kind zu uns zurückkommen würde. Aus diesem Grund haben wir das Gebiet auch nicht verlassen. So lange haben wir uns noch nie an einem Ort aufgehalten.«
»Aber warum willst du, daß ich Nicolai jetzt heirate?
Du hast mir doch geholfen, die Heirat in den vergangenen Jahren zu umgehen. Aus welchem Grund hast du deine Meinung geändert?«
»Ich habe meine Meinung nicht geändert, Anna. Ich habe nichts von einer Eheschließung mit Nicolai gesagt, nur daß du heiraten mußt.«
Anastasias Augen
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