Malory
zwei gestohlenen Hühnern nach Hause.
Wurde ein Wagen in Auftrag gegeben, so blieben sie manchmal eine Woche in der Nähe der Stadt; wenn nicht, zogen sie nach ein oder zwei Tagen weiter. Kam es vor, daß die Wagenbauer für die Fertigstellung eines Auftrags zu lange brauchten, dann brach die Karawane auf und hinterließ den Männern am Straßenrand Zeichen, damit sie ihr nachfolgen konnten.
Das war nötig, da Leute wie sie oft für jedes Verbrechen als Sündenbock herhalten mußten, ob sie es begangen hatten oder nicht. Reiste eine Karawane durch solch eine Gegend, dann zeigten die Einheimischen mit den Fingern auf sie, und es war nicht ratsam, sich dort zu lange aufzuhalten. Innerhalb weniger Minuten konnten sie ihr Lager aufschlagen und in noch kürzerer Zeit ab-brechen und weiterziehen. Unliebsame Erfahrungen und jahrhundertelange Verfolgung hatten sie gelehrt, in Sekundenschnelle wieder unterwegs zu sein.
Sie waren Wanderer, fahrendes Volk; der Drang zu reisen lag ihnen im Blut, zu sehen, was hinter dem nächsten Horizont lag. Die jungen Erwachsenen hatten fast ganz Europa gesehen. Die älteren hatten Ruß-
land kennengelernt und seine Nachbarländer. Sie neig-ten mehr dazu, sich länger in einem Land aufzuhalten, um dessen Sprache so gut wie möglich zu erlernen, vorausgesetzt natürlich, widrige Umstände zwangen sie nicht, es vorzeitig zu verlassen. Für ein fahrendes Volk war es nahezu unerläßlich, mehrere Sprachen zu beherrschen, und Iwan brüstete sich damit, sechzehn Sprachen zu sprechen.
Das war nicht der erste Aufenthalt in England, noch würde es der letzte sein, da die englischen Zigeunerge-setze nicht mehr so streng wie in den vergangenen Jahrhunderten waren. Die Engländer betrachteten sie als einen eigenwilligen Menschenschlag. Viele junge Engländer aus guten Familien waren derart fasziniert von ihren Sitten und ihrer Freiheitshebe, daß sie sich ihnen am liebsten anschließen wollten.
Iwan duldete die Anwesenheit eines oder zweier dieser Gajos nur eine kurze Zeit lang und auch nur, weil es beruhigend auf die Bauern wirkte, die daraus folgern mußten, Zigeuner könnten eigentlich weder Gauner noch Diebe sein, wie man ihnen nachsagte, wenn ihre eigenen Lords sie vertrauenswürdig fanden, oder?
So ein Gajo lebte im Augenblick bei ihnen, ein gewisser Sir William Thompson. Er gehörte nicht zu der Sorte Engländer, die ihnen nacheifern wollten, ganz und gar nicht. Er war ein alter Mann, sogar älter als Maria, obwohl sie bereits die Älteste des Stammes war.
Vor einigen Monaten hatte sie ihn angesprochen, nicht, um ihm weiszusagen – das tat sie nicht mehr für Gajos – , sondern weil sie den Schmerz in seinen Augen gesehen hatte und ihn davon befreien wollte.
Es gelang ihr. Sie nahm William die Bürde einer Schuld ab, die seit über vierzig Jahren auf ihm lastete, damit er in Frieden zu seinem Schöpfer heimkehren konnte. Aus Dankbarkeit schwor er, seine verbleiben-den Jahre bei Maria zu verbringen. In Wahrheit aber war ihm nicht entgangen, daß sie bald sterben würde, und deswegen wollte er ihr die letzten Tage so gut er konnte verschönen, um sich für das, was sie für ihn getan hatte, erkenntlich zu zeigen. Keiner wußte es.
Auch diejenigen, die Maria ein Leben lang kannten, waren ahnungslos. Nicht einmal ihre geliebte Enkeltochter wußte davon. Doch William hatte es erkannt, und beide behielten dieses Wissen für sich.
Wäre es nach Iwan gegangen, so hätte er ihm nicht erlaubt zu bleiben. Sein Alter war zum Nachteil, wurde beschlossen. Er war zu alt, um mit seinem Beitrag die Gemeinschaftskasse zu füllen. Aber er bestand darauf, sich zu beweisen, und es gelang ihm auch. Da er stets mit den Taschen voller Münzen zum Lager zurückkehrte, durfte er bleiben. Der strittige Punkt war eigentlich eine Farce, denn Sir William war ein wohlha-bender Mann und die Münzen waren seine eigenen.
Er bezahlte damit für das Privileg, bei Maria zu bleiben. Außerdem leistete er noch einen weiteren Beitrag. Er verhalf der Gruppe zu besseren Sprachkennt-nissen, was sehr nützlich war, da Iwan nicht vorhatte, England noch in diesem Jahr zu verlassen.
Anastasia Stephanowa saß auf dem kleinen Platz vor dem Wagen, den sie mit Maria bewohnte. Die Groß-
mutter saß neben ihr, während sie zusah, wie das Lager für die Nacht eingerichtet wurde. Die Feuerstellen wurden eingedämmt. Einige Gruppen blieben noch sitzen und unterhielten sich leise. Kinder wurden in ihre Decken gerollt, wenn sie
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