Malory
dorthin zu-rückgezogen hatte, war sie von niemandem mehr gesehen worden. Sie konnte tot sein; womöglich machten sie diese Reise ganz umsonst. Doch Danny fürchtete sich auch davor, dass Evelyn Hilary sie nicht als ihre Tochter anerkennen würde, wenn sie denn noch lebte. Es gab keine Beweise außer einer entfernten Ähnlichkeit. Warum sollte eine feine Dame, die Tochter eines Grafen, die Witwe eines Barons, irgendein Straßengör als ihr eigenes Fleisch und Blut anerkennen?
James Malory war mit ihnen gekommen. Er hatte darauf bestanden. »Nun, da du weißt, wer sie ist, braucht die Kleine einen Aufpasser«, hatte er seinem Sohn erklärt.
Das hatte Jeremy gar nicht gern gehört, und Danny hätte bestimmt verächtlich geschnaubt, wenn sie nicht so benommen gewesen wäre. Noch wussten sie nicht ganz sicher, wer sie war; sie hatten nur eine Vermutung. Dass die Tragödie, die Evelyn Hilary erlebt hatte, ihrer eigenen glich, bedeutete noch gar nichts. Es konnte auch ein Zufall sein.
»Die Lady war nicht zu Hause, als ihr Mann Robert umgebracht wurde. Die beiden waren für einen kurzen Besuch nach London gekommen, doch Lady Evelyn wurde zurück nach Somerset gerufen. Ihre Großmutter war gestürzt oder so etwas Ähnliches. Die Geschichte von den Morden ging damals durch alle Zeitungen. Es wurde angenommen, ein Verrückter wäre in ihr Londoner Haus eingebrochen und hätte blindwütig die Bewohner umgebracht. Lady Evelyns Ehemann und mehrere Dienstboten wurden getötet. Ihre Tochter und deren Amme wurden nie wieder gesehen, doch das Blut am Ort des Geschehens deutete darauf hin, dass beide ebenfalls umgebracht und ihre Leichen fortgeschafft worden waren. Dass der Mörder nur ihre Leichen mitgenommen, die anderen aber zurückgelassen hatte, führte zu der The-orie, dass der Täter ein Verrückter war. Für so ein sinnloses Abschlachten gab es einfach keinen Grund.«
»Und warum hast du Danny nicht erkannt?«, fragte Jeremy seinen Vater. »Warst du damals nicht in London?«
»Na ja, das war eigentlich eine ganz romantische Geschichte«, erzählte James. »Ich weiß noch, dass ich enttäuscht war, weil ich Lady Evelyn nie kennen gelernt hatte. Doch sie hatte nun einmal die kürzeste Saison aller Zeiten absolviert; sie hat nämlich nur eine einzige Gesellschaft besucht, auf der Jason zufällig ihre Bekanntschaft gemacht hat. Offenbar war Robert Hilary damals bereits mit ihr bekannt und ihr nach London gefolgt, um ihr einen Heiratsantrag zu machen. Sie nahm an und kehrte schon am nächsten Tag nach Hause zurück. Die beiden haben sich dann auf Roberts Landsitz in Hampshire niedergelassen, wo sie eine Tochter bekommen haben. Gelegentlich statteten sie London einen Besuch ab, aber sie nahmen eigentlich nicht am gesellschaftlichen Leben teil, wenn sie in der Stadt waren. Daher erinnern sich auch nur so wenige Leute an Lady Evelyn.«
All das hörte Danny nur mit halbem Ohr. Sie verstand es zwar, doch sie konnte nicht begreifen, dass es dabei wirklich um sie ging – noch nicht. Ihre Furcht war zu groß.
Jeremys bloße Anwesenheit war ihr schon ein Trost, doch obendrein hatte er während der ganzen Fahrt den Arm um sie gelegt. Ohne diese Stütze hätte sie sich vermutlich nicht aufrecht halten können. Je näher sie Somerset kamen, desto stärker schnürte die Angst ihr die Kehle zu. Wenn sie noch einen klaren Gedanken hätte fassen können, wäre sie in die entgegengesetzte Richtung davongerannt.
Das Anwesen, das sie schließlich erreichten, war prachtvoll. Rechts und links des dreistöckigen Hauptge-bäudes gab es zwei kürzere Seitenflügel, das Ganze aus dunkelgrauem, von Efeu überwuchertem Stein. Das Haus stand inmitten von makellosen Rasenflächen, auf denen hier und da stattliche alte Eichen wuchsen. Bei diesem Anblick wuchs Dannys Furcht ins Unermessliche. Sie hatte noch nie ein so großes Gebäude gesehen, das tatsächlich bewohnt war.
Sie wurden nicht eingelassen. Danny war froh zu hö-
ren, dass Lady Evelyn grundsätzlich keine Besucher empfing. Der Butler war unerbittlich, zumal ihm der Name Malory nichts sagte.
Schon wollte er ihnen die Tür vor der Nase zuschlagen, als Jeremy die Geduld verlor und Danny vor sich zerrte – sie hatte sich hinter seinem Rücken versteckt.
»Ich schätze, die Lady würde doch gern ihre Tochter sehen«, hielt er dem Diener vor.
Der Butler, ein unbeugsamer Geselle, wurde langsam bleich, als er Danny erblickte. Schließlich forderte er sie mit zitternder Stimme auf: »Kommen
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