Malory
vor Gabrielle hin und sagte freundlich: »Hoffentlich hast du jemanden, der für dich bezahlt, Kleine. Ich hab’s so lange wie möglich rausgezögert, aber dann musst’ ich zugeben, dass ich keine Familie mehr habe, und deswegen bin ich noch hier.«
Die etwa vierzigjährige Frau, die sich als Dora vorstellte, setzte sich und unterhielt sich einige Minuten mit Gabrielle.
Man hatte ihr erlaubt, auf der Insel zu bleiben, und ihr Lösegeld abzuarbeiten. Sie kochte für die Piraten und war ihnen offenbar auch in anderer Weise dienlich, wenn ihr der Sinn danach stand, was sie Gabrielle leichthin erzählte.
Sie war nun schon zwei Jahre da, betrachtete sich mittlerweile sogar als zugehörig und bekannte freimütig: »Sie sind nicht darauf aus, sich einen Namen zu machen, ganz anders als die Piraten, die Sie vielleicht noch aus dem letzten Jahrhundert kennen. Sie wechseln ihren Namen ebenso häufig wie ihre Schiffe oder deren Namen und benutzen Verkleidungen. Sie wollen Geld machen, nicht gehenkt werden. Heutzutage ope-rieren sie im Geheimen und wechseln sogar alle paar Jahre die Basis.«
»Ist das hier ihr Basislager?«, fragte Gabrielle neugierig.
Dora nickte. »Wir sind hier auf einer Insel, die so abgelegen ist, dass sie nie einen Namen bekommen hat. Es ist eine hübsche Insel, zu hübsch sogar. Ein oder zwei Mal mussten schon Siedler vertrieben werden, denen sie ebenfalls gefiel.«
»Wer ist ihr Anführer?«
»Keiner. Die Kapitäne sind gleichberechtigt und bestim-men nur über ihre eigenen Mannschaften. Wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, die alle angehen, stimmen sie ab.«
»Wie viele Kapitäne teilen sich diese Basis?«, fragte Gabrielle.
»Augenblicklich fünf. Es gab noch einen sechsten, aber der ist letztes Jahr eines natürlichen Todes gestorben, und seine Mannschaft hat sich auf die anderen verteilt.«
Gabrielle äußerte ihr Erstaunen darüber, dass so wenige Kapitäne über eine anscheinend recht große Ansiedlung bestimmten.
»Sie wollen nicht zu viele Mannschaften hier. Je mehr Menschen herkommen, desto größer ist auch die Gefahr, dass einer sich verplappert und die Lage der Basis verrät.«
Als Kapitän Brillaird das Haus betrat, zog die Frau sich schnell zurück. Seinen wahren Namen hatte er Gabrielle nicht genannt und sie sollte ihn auch nie erfahren. Er wechselte die Namen so häufig, dass seine Männer ihn schlicht »Käpt’n«
nannten, daher folgte Gabrielle ihrem Beispiel, wenn es sich nicht vermeiden ließ, ihn anzusprechen. Er jedoch registrierte nur, dass sie dasaß, und ignorierte sie dann für den Rest des Tages – ebenso wie die folgenden Tage.
Fünf Tage später hatte der Kapitän sie immer noch nicht gefragt, wen er wegen des Lösegeldes kontaktieren sollte. Gabrielle machte sich derweil Gedanken darüber, wie sie ihm er-klären konnte, dass ihr Vater zwar den Preis bezahlen würde, sie aber schlichtweg nicht wusste, wo er zu finden war. Sie konnte sich nicht denken, dass der Kapitän ihr glauben würde, und sie konnte sich nicht vorstellen, was dann geschehen wür-de. Dora erklärte ihr, dass man sie noch nicht befragt habe, weil der Kapitän die Information erst brauche, wenn er wieder bereit zum Auslaufen sei, und wann das sein würde, wusste niemand. Die Frau des Kapitäns lebte auf der Insel und er hatte sie zwei Monate nicht gesehen.
Die Piraten aßen, schliefen, tranken, spielten, zankten, scherzten und spannen Seemannsgarn. Gabrielle schlief in einer winzigen Kammer an der Rückseite des Hauptgebäudes und jeden Tag wurde ihr der Zugang zum Gemeinschaftsraum erlaubt, daher konnte sie sich über Langeweile nicht beklagen.
Es war nervtötend, aber nicht langweilig. Margery durfte sie täglich einige Stunden besuchen und Gabrielle stellte erleichtert fest, dass ihre ehemalige Haushälterin die Gefangenschaft gut ertrug, obwohl sie sich unablässig über die dünne Stroh-matte beschwerte, auf der sie schlafen musste, und über die schlechte Qualität der Speisen.
Am sechsten Tag ihrer Gefangenschaft trafen zwei weitere Schiffe ein; im Hauptraum wurde es mit den neuen Mannschaften etwas eng. Und auch sehr viel beunruhigender. Denn die Neuankömmlinge waren alles andere als freundlich. Einige warfen Gabrielle Blicke zu, bei denen es ihr kalt über den Rücken lief. Und einer der beiden neuen Kapitäne starrte sie so lange und so durchdringend an, dass sie an seinen bösen Absichten keine Zweifel hegte.
Er war groß und muskulös, wahrscheinlich Ende dreißig
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