Malory
der Saison mieden.
Sie kamen am frühen Nachmittag in Silverley an und waren
erwartungsgemäß die
ersten
Gäste.
Die meisten
anderen wohnten ganz in der Nähe und wollten deshalb auch
nicht
bei
ihren
Gastgebern
übernachten.
Frances
schlug vor, einige Stunden zu schlafen, und auch Roslynn zog sich unter diesem Vorwand auf ihr Zimmer zu-rück, legte sich aber nicht zu Bett, sondern setzte sich ans Fenster und ließ die Auffahrt nicht aus den Augen. Jede eintreffende
Kutsche
versetzte
sie
in
Aufregung,
jeder
männliche
Fahrgast
wurde
mit
Herzklopfen
betrachtet.
Sie achtete
sogar
auf das
Kommen
und
Gehen
der
Dienstboten, um ganz sicher zu sein, daß niemand ihrer Aufmerksamkeit entging.
Als Nettie einige Stunden später ihrer Herrin half, Toilette zu machen, wurde ihre Geduld durch Roslynns nervöse Unruhe auf eine harte Probe gestellt. Sie brauchte allein für die Frisur länger als eine halbe Stunde, weil Roslynn ständig aufsprang und zum Fenster rannte, sobald irgendein Geräusch auf die Ankunft eines neuen Gastes hindeutete.
»Ich möchte wirklich für mein Leben gern wissen, nach wem du so sehnsüchtig Ausschau hältst, daß du nicht
einmal
zwei
Minuten
stillsitzen
kannst?«
fragte
Nettie schließlich, als Roslynn wieder einmal am Toilettentisch Platz nahm.
»Nach wem sollte ich Ausschau halten, wenn nicht nach meinen Herren?« schwindelte Roslynn gereizt. »Bis jetzt ist nur Sir Artemus Shadwell erschienen.«
»Wenn die anderen kommen, sind sie nachher hier, und wenn nicht, dann kannst du auch nichts daran ändern. Also mach dich nicht verrückt.«
»Leicht gesagt«, murmelte Roslynn, heilfroh, daß Nettie nicht die Wahrheit wußte.
Sie hatte nämlich, um ganz ehrlich zu sein, seit der ersten Begegnung mit Anthony Malory kaum noch an ihre vier
Heiratskandidaten
gedacht.
Aber
das
mußte
sich
schleunigst ändern.
Zum Glück schienen nun alle Gäste eingetroffen zu sein, und so konnte Nettie ihr ohne Unterbrechungen in das himmelblaue Seidenkleid helfen, das sie für diesen Abend ausgewählt hatte, und ihr das Saphirkollier und die Saphirarmbänder anlegen.
Als Roslynn dann mit Frances nach unten ging, fühlte sie sich fast entspannt. Er war nicht gekommen, und obwohl sie eine leichte Enttäuschung verspürte, so über-wog doch bei weitem die Erleichterung.
Lady Eden begrüßte sie am Fuße der breiten Treppe, die von der riesigen zweigeschossigen Halle nach oben führte und sich auf halber Höhe verzweigte; ein Teil führte zu den an der Vorderseite des Hauses gelegenen Gästezimmern, der andere zu den Schlafgemächern der Familie. Eine mit herrlich geschnitztem Geländer versehene Galerie verband diese zahlreichen Räume im ersten Stock. Von der hohen kuppelförmigen Decke hing ein Kronleuchter
von
enormen
Ausmaßen
herab,
dessen
strahlendes Licht reizvolle Muster auf den weißen Mar-morboden der Halle zauberte.
Roslynn freute sich auf einen Rundgang durch das Haus, und Regina enttäuschte sie nicht. Mit der Beteue-rung, daß die anderen Gäste warten könnten, führte sie die beiden Freundinnen herum und brachte es durch ihr fröhliches
Geplaudere
und
ihr
charmantes
Wesen
zu-
stande, Roslynns Laune weiter zu heben.
Silverley war ein sehr großes Landhaus, das mit seinem
massiven
Haupttrakt
und
den
Ecktürmchen
fast
schloßartig anmutete, im Innern aber nichts Mittelalterli-ches an sich hatte, mit Ausnahme der antiken Gobelins an einigen Wänden. Die Räume waren mit Möbeln verschiedener
Stilepochen
geschmackvoll
eingerichtet,
doch
nichts wirkte museal oder zur Schau gestellt. Roslynn gewann den Eindruck eines behaglichen Heims.
Der Rundgang endete im hinteren Teil des Hauses, wo sich die Gäste aufhielten. Vom Antichambre mit seinen deckenhohen
bunten
Glasfenstern
aus
gelangte
man
links in den Salon und in das angrenzende Musikzim-mer, rechts in den großen Speisesaal und in den Wintergarten, den zu besichtigen im Augenblick allerdings keine Zeit blieb, denn schon im Antichambre mußte Regina die jungen Frauen mit zahlreichen Gästen bekannt machen.
»Ich glaube, daß Sie einen meiner Nachbarn besonders sympathisch finden werden«, sagte Regina zu Roslynn, nachdem es ihr endlich gelungen war, die Freundinnen in den Salon zu führen. »Wissen Sie, die Saison in London ist nicht jedermanns Sache. Auch ich bin nur hinge-fahren, weil ich es versprochen hatte, aber jetzt bin ich froh darüber, denn auf diese Weise habe ich Sie
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