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Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern

Titel: Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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aber Till hört nicht auf zu kauen. Sein Unterkiefer mahlt langsam vor sich hin, während Anna das Kinn auf die Hände stützt und lauscht, ob Lili und Dani wieder zurück ins Spiel finden. Aber nebenan ist es sehr still.
    Zwei Tage lang bleibt der Arztkoffer unberührt. Lili und Dani sitzen stumm neben Till in der Leseecke und blättern Bücher durch. Anna hilft an der Schaukel, beim Wickeln und am Basteltisch und traut sich keine Entschuldigung zu. Dann hat Lili einen Anfall und liegt in der Krankenstation, und als sie zurückkehrt, bekommt Dani eine Infektion. Als sie nach Wochen endlich wieder versammelt sind, bittet Anna um einen freien Vormittag, zieht sich ihre Laufschuhe an und rennt in das fette Grün hinein, das gleich hinter der Schule über die Zäune quillt und über die Wege wuchert. Sie läuft mit groben Schritten, greift weit aus, bis der Atem schmerzt, ein kräftiger, lebendiger Schmerz, den nur die Gesunden kennen, die, die rennen können, bis der Schweiß kommt.
    Beim Laufen reißt sie ihre Finger auseinander und schlägt sich mit den Fersen in den Hintern, bis sie fast stolpert, auch das Stolpern ist ein Geschenk, wenn man sich wieder fangen und mit zwei Ausfallschritten den strauchelnden Körper ins Lot bringen kann.
    Sie rennt am Schrottplatz vorbei, wo ein alter Mann in schlammigen Kleidern mit einem Stock im Müll herumstochert, er ist fast immer dort, und manchmal spricht sie mit ihm, er kennt sogar ihren Namen und nennt sie Fräulein Anna. Fräulein Anna, Sie bringen die Sonne mit, sagt er immer, auch wenn es nieselt, und sie plaudern ein bisschen. Heute läuft Anna zügig am Schrottplatz vorbei, aus den Augenwinkeln sieht sie, wie der alte Mann seinen Stock hebt, sicher ruft er sie, aber heute kann sie nicht anhalten, sie will in die Stadt laufen, sich etwas zum Anziehen kaufen oder Ohrringe, etwas Nutzloses, Teures, vielleicht einen Kaffee trinken, vielleicht jemanden sehen und gesehen werden.
    Sie schafft es, ohne anzuhalten, bis in die Einkaufsmeile, und kauft sich gleich im ersten Kaufhaus ein grellgrünes T-Shirt, das verschwitzte Laufhemd lässt sie in der Plastiktüte verschwinden. Beim Bäcker holt sie sich eine Zimtschnecke und einen Orangensaft, lehnt sich erschöpft an ein Schaufenster, kaut und trinkt, sie gießt den Saft in ihren aufgerissenen Mund wie in einen Trichter.
    Als sie am nächsten Tag die Tür aufmacht, heben sich alle Köpfe, als sei sie ein unerwarteter Gast. Sie hat sich die Haare hochgesteckt, damit man die neuen Ohrstecher besser sieht. Dein Hemd sieht aus wie eine Wiese, sagt jemand. Die Betreuerin kichert, na, Frühlingsgefühle. Klar, sagt Anna heftig, das wurde ja auch mal Zeit. Hier ist es viel zu heiß, mach mal das Fenster auf. Anna, mahnt die Betreuerin, hast du vergessen, daß Naomi anfällig für Lungenentzündungen ist. Anna schaut hinüber zu Naomi, die dünn und spitznasig mit den Armen wedelt. Ach so, sagt sie, entschuldige. Hab ich vergessen.
    Sie dreht sich um, als sei sie lange nicht dagewesen.
    Aus dem Nebenraum hört sie die geschäftigen Stimmen von Lili und Dani. Also, du wärest krank, sagt Lili, du hättest dir einen Arm gebrochen. Doktor, ich habe mir einen Arm gebrochen, wimmert Dani. Da brauchen wir, seufzt Lili zufrieden, da brauchen wir auf jeden Fall etwas Geduld.

Georg
1. Viel Dunkel und ein Hell

    Am zwölften August neunzehnhundertfünfundsechzig wurde Georg geboren. Seine Mutter lag in einer Abstellkammer des Antonius-Krankenhauses, weil die Kreißsäle belegt waren, und wartete darauf, dass jemand sie holen käme. Sie wartete die ganze Nacht, übergab sich zweimal in einen Putzeimer und kroch schließlich, als die Wehen zu heftig wurden, auf allen vieren in den Flur hinaus. Dort fand sie die Putzfrau, die Scheuermilch und Seifenlauge holen wollte, um die Spuren der nächtlichen Geburten zu tilgen, zusammengekrümmt auf dem Linoleumboden. Gemeinsam mit der Nachtschwester Doris, die sich gerade umziehen wollte und nur unwillig den weißen Kittel wieder überwarf, hievte sie Birgit H. auf eine Liege und schob sie in den Kreißsaal.

    Inzwischen war genug Platz, und Birgit H. hätte sich schon längst in einem frisch bezogenen Krankenbett ausstrecken können, aber die Wehen waren so stark, dass es ihr gleichgültig war, und außerdem hatten der Stationsarzt Dr. Monat und alle diensthabenden

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