Man lebt nur ewig
eigentlich, dass sie nur Möglich- keiten aufzeigen. Ich denke, die Dinge, die du siehst, tref- fen mit höherer Wahrscheinlichkeit ein als andere. Doch in einer Welt, in der alles Mögliche geschehen kann, muss man daran glauben, dass wir eine Wahl haben. Und dass wir die Dinge verändern können.«
»Das würde ich gerne …«
»Was ist mit diesem Kerl, Sergeant Preston? Warum hast du ihn abblitzen lassen?«
Cassandra stiegen wieder die Tränen in die Augen. »Als ich ihn berührt habe, habe ich etwas gesehen …«
»Was denn?«
»Er hat einen kleinen Sohn aus seiner ersten Ehe. Seine Mutter ist Witwe und ist von ihm abhängig, und seine drei Brüder vergöttern ihn. Und der Versuch, mich zu retten, wird ihn das Leben kosten.«
»Wow, so etwas wirkt natürlich wie eine Stinkbombe für die aufkeimende Romanze.«
»Ich meine es ernst, Jasmine!«
»Um Himmels willen, Cassandra, warum bist du in letzter Zeit ständig so unheilbesessen?« Ich hatte eine In- spiration. »Warum kannst du nicht einfach mit dem Kerl
in die Kiste hüpfen, ein bisschen Hoppe-Hoppe machen und dich hinterher in Reueanfällen suhlen, genau wie der Rest von uns niederen Sterblichen?«
»Hoppe-Hoppe machen?« Sie grinste.
»Hey, ich bin gerade nicht ganz auf der Höhe. Wenn du etwas Cleveres hören willst, besorg mir eine Blutkon- serve.«
»Du bist so eine Heuchlerin. Ich weiß, dass du noch nie einfach mit jemandem ›in die Kiste gehüpft‹ bist. Das passt einfach nicht zu dir.«
»Hey, wenn ich einen Vortrag über meine Fehler hö- ren will, rufe ich meinen Dad an. Oh, dabei fällt mir ein, ich sollte meinen Dad anrufen.« Ich holte mein Handy raus.
»Jasmine«, zischte Cassandra. »Wir sind noch nicht fer- tig miteinander.«
»Doch, sind wir. Wir haben eindeutig festgestellt, dass deine Visionen in letzter Zeit so zum Himmel stinken, dass wir drastische Maßnahmen ergreifen müssen, um sie zu entkräften. Und dass du dringend flachgelegt wer- den musst.« Ich ging über Cassandras empörtes Schnau- fen hinweg, indem ich meinen Vater begrüßte: »Hi, Al- bert.« Ich zeigte auf das Handy und flüsterte: »Es ist mein Vater.« Dann drehte ich ihr den Rücken zu, bevor sie ihre zivilisierte Hülle abstreifen und mir eine verpas- sen konnte.
»Jaz? Hast du vorhin versucht, mich anzurufen?«
»Nö.«
»Hm. Irgendjemand ruft ständig an und legt dann auf.«
»Wahrscheinlich ein Telefonverkäufer. Ähm, könntest du mich schnell zurückrufen?« Soll heißen, über seine sichere Leitung.
»Alles klar.«
Wir legten auf. Wenige Sekunden später waren wir wie- der miteinander verbunden, nur diesmal über einen Draht, der sicherer war. »Pass auf, Albert, ich bin einem Wesen begegnet, über das nicht sonderlich viel bekannt zu sein scheint. Es nennt sich Schröpfer. Drittes Auge mitten auf der Stirn. Heftiger Schild, der Kugeln und Klingen ab- wehren kann, solange man nicht den goldenen Punkt fin- det. Raubt Seelen, aber nur unter bestimmten Umständen. Ich habe ein paar Hintergrundinformationen gefunden, aber nicht viel. Deshalb hatte ich gehofft, dass du ein paar Leute anrufen und herausfinden könntest, ob früher schon mal jemand mit diesen Widerlingen zu tun hatte.« Eigentlich erwartete ich nicht, dass Albert mir in diesem Fall helfen konnte. Aber er hatte eine gehörige Portion Stolz wiederentdeckt, als er mir bei meinem letzten Fall geholfen hatte, deshalb hoffte ich, dass wir diesen Prozess jetzt fortführen konnten.
»Auf jeden Fall.«
»Danke. Ich melde mich wieder.«
»Mach das.« Komisch, während dieses Dreißig-Sekun- den-Gesprächs schien er zehn Jahre jünger geworden zu sein. War er sich während seines Ruhestands wirklich so nutzlos vorgekommen? Falls dem so war, sollte ich mal mit Evie sprechen. Ich konnte ihn einfach nicht ausrei- chend beschäftigen, um diese neue Einstellung aufrecht- zuerhalten. Vielleicht hatte sie ja eine Idee.
»Lucille Robinson?«
Cassandra schob mich zu der Frau Mitte vierzig im wei- ßen Kittel, die meine Patientenakte in der Hand hielt. Sie musterte mich ungläubig. »Wie schafft man es nur, sich acht fast identische Wunden in den Händen zuzuziehen?«
»Ich war mit den falschen Leuten zusammen. Meine
Mutter hat mich immer gewarnt, dass es einmal so weit kommen würde. Ich hätte wahrscheinlich besser auf sie hören sollen, was?«
Sie betrachtete meine verbundenen Hände. »Was haben Sie getan?«
»Würden Sie mir glauben, wenn ich behauptete, ich sei ausgerutscht, während ich
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