Man lebt nur ewig
bis ich sicher sein konnte, nicht mein gesamtes Abendessen auf dem Rasen zu verteilen.
»Du solltest dich hinsetzen«, schlug Vayl vor und stell- te den Stuhl so hinter mich, dass ich nur noch in die Knie gehen musste, um mich zu setzen. Plötzlich schien mir das eine gute Idee zu sein. Vayl setzte sich vor mich, so- dass unsere Beine sich fast berührten.
Eine unheimliche Ruhe legte sich über mich. Ich war mir nicht sicher, was das zu bedeuten hatte. Ich konnte mich im Auge eines gigantischen Sturms befinden. In die- sem Fall sollte Vayl besser die Beine in die Hand nehmen. Oder vielleicht hatte sich das Wasser um mich herum so vollkommen beruhigt, weil in mir keine Energie mehr übrig war, um es zu bewegen.
»Hast du bei David gefunden, was du brauchtest?«, fragte Vayl.
»Irgendwie schon. Sie sind … diese Träume, sie drehen sich um Matt.«
Vayls Hand an dem Gehstock, den er sich auf den Schoß gelegt hatte, verkrampfte sich. Es nervte mich, dass er ihn immer noch nicht gesäubert hatte und überall auf den Tigerköpfen, -rücken und -schwänzen kleine Schleim- tropfen hingen und die Spitze mit Dreck verklebt war. Es juckte mich in den Fingern, ihn mir zu schnappen und blitzblank zu putzen. »Was ist mit Matt?«
»Er ist gestorben.«
Das war eine so offensichtliche und simple Erkenntnis, dass es mich fast überraschte, dass Vayl mir nicht mit der Hand gegen die Stirn schlug. Stattdessen sagte er vorsich- tig: »Matt hatte einen furchtbaren Tod.«
»Das hätte nicht passieren dürfen«, fügte ich hinzu.
»Nein.«
»Ich dachte, ich sei darüber hinweg.«
Vayl beugte sich vor und schob den Stock zurück, damit er die Ellbogen auf die Oberschenkel stützen konnte. Er verschränkte seine langen Finger. »Das würde ein Ende darstellen. Du wolltest diesen Mann heiraten. Du hast eine Liebe für ihn empfunden, die ein Leben lang halten sollte. Dieses Gefühl wird sich nicht zwangsläufig ändern, nur weil er nicht mehr da ist. Ich liebe meine Söhne heute noch genauso wie an dem Tag ihrer Geburt. Vielleicht ist das Beste, worauf wir beide hoffen können, nicht über diesen Schmerz hinwegzukommen, sondern uns voran- zubewegen.«
Ja, bewegen . Ich hatte schon früh erkannt, dass das das Schlüsselwort war.
Als ich Matt und meine Mannschaft verloren hatte, war mein Leben, wie ich es bis dahin gekannt hatte, vorbei gewesen. Und die Zeit war zum Stillstand gekommen.
Doch ich hatte Wege gefunden, um den Sekundenzeiger dazu zu bringen, weiter seinen Dienst zu tun. Der Trick lag darin, so hatte ich gedacht, in Bewegung zu bleiben. Und doch hatten die Alpträume mich immer wieder ein- geholt. Hatten alles getan, außer vielleicht meinen Kopf gegen eine Mauer zu schlagen.
Letzten Ende reichte es nicht aus, sich nur zu bewegen. Nicht, wenn sich alles, was du tust, um die Quelle deines Kummers dreht. Doch die Frage ist: Wenn man das los- lässt, woran kann man sich dann noch festhalten?
24
M anchmal ist mir, kurz bevor ich aufwache, genau bewusst, wie ich aussehe, und normalerweise bin ich dann froh, dass mich niemand sehen kann. An diesem Morgen wusste ich, dass mein Mund so sperrangelweit offen stand wie ein leerer Briefkasten. An meinem Kinn lief Sabber herunter. Ich hatte gerade eine wundervolle Portion Schlaf hinter mir, und mein Kopf war von einer grünlichen Wolke von Mundgeruch umgeben.
Ich schloss ruckartig den Mund, wischte mir mit dem Ärmel das Kinn ab und zuckte zusammen, als dabei ein kaum verheilter Schnitt an meinem Arm aufriss. Dann öffnete ich die Augen.
Cassandra briet gerade Speck, was den Sabber erklärte. Bergman spielte mit den beiden Computern auf dem Tisch. Cole saß mit angezogenen Beinen auf Mary-Kate und sah zwischen Cassandra und mir hin und her, offen- bar höchst amüsiert darüber, Jekyll und Hyde gleichzeitig in einem Raum zu haben.
Ich setzte mich auf. Langsam. Nach dem Bauchtanz, dem Feuer, dem Besuch bei David und seinen Folgen hat- te die Nacht ihren Tribut verlangt.
»Du siehst beschissen aus!«, verkündete Cole fröhlich. »Obwohl, die Haare gefallen mir.« Er formte mit Dau- men und Zeigefingern eine Kameralinse und sagte mit der quietschenden Stimme des Dschinns aus dem Film Aladdin : »Nun, was sagt mir das? Obdachlose? Opfer
eines Tornados? Britney Spears? Jetzt hab ich’s! Kinder- gartenkind, das seinen Kaugummi verlegt hat!«
Ich sah ihn unheilvoll an. »Du bist ein Morgenmensch, oder?«
»Bei dir klingt das so, als wäre das etwas Schlimmes.«
»Nicht, wenn
Weitere Kostenlose Bücher