Man lebt nur ewig
Desmond Yale zu tun. Wus baldiges Ableben sollte kein Problem sein. Die Angst lachte, wie verwöhnte Teenagermäd- chen lachen, nachdem sie sich über deine Haare lustig gemacht haben, und über deine Ohrringe, deine Schuhe, deine Jeans, die Art, wie du gehst, wie du redest, und die Tatsache, dass du alle dreißig Sekunden oder so blin- zelst … und kehrte zu ihrer Mahlzeit zurück. Denn nun musste ich davon ausgehen, dass Wu es auf meine Seele abgesehen hatte. Ich war mir nicht sicher, wie er es ge- schafft hatte, mich zu identifizieren. Vielleicht hatten die Schröpfer einen Seher, der für sie arbeitete. Vielleicht hatte Desmond Yale auch einen Passagier in seinem Kopf gehabt, als ich im Sustenance mit ihm gekämpft hatte, den er dann in der Flughafentoilette auf Wus Körper übertragen hatte. So oder so hatte es den Anschein, als ob die Regeln, denen die Morde der Schröpfer unterworfen waren, Racheakte zuließen. Und Wu hatte plötzlich ent- deckt, dass nun ich an der Reihe war. Wahrscheinlich musste er ein hämisches Grinsen unterdrücken, weil ich ihm so ziemlich in den Schoß gefallen war. Das ist sicher- lich Pech. Aber es kommt vor.
Ich folgte Wu durch den großen Wohnraum, wo drei weitere uniformierte Männer Staub wischten und schrubb- ten, als hinge ihr Leben von dem Glanz ab, den sie zurück- ließen. Wer weiß, vielleicht war es ja auch so. Vom Essbe- reich führte ein Gang zu den Kabinen, die ich bei meinem ersten Besuch entdeckt hatte. Wir ignorierten die geschlos- senen Türen zu beiden Seiten und gingen direkt zu der Ka- bine am Ende des Ganges. Wu öffnete mit einem Schlüssel, den er aus der Tasche holte, die Tür.
Wollte er den Gentleman spielen, hätte ich ein Problem,
aber er betrat vor mir den Raum. Er schloss hinter mir die Tür, und ich hörte, wie er sie abschloss, aber das war okay. Ich hatte auch keine Lust auf Unterbrechungen.
»Das ist die Kabine von Pengfei Yan«, erklärte Wu.
Vayl hätte sie geliebt. Doch es störte mich, dass er und Pengfei einen ähnlichen Geschmack hatten. Was sagt es über zwei Leute aus, wenn sie beide riesige Betten mö- gen, die frei auf kleinen Marmorsäulen stehen, die von innen beleuchtet sind? Das Bettzeug passte zu Teppich und Wandbehängen, alles in Cremeweiß mit ineinander verschlungenen gelben Kreisen.
Neben dem Bett standen weiße Nachtkästchen mit blassgelben Schubladenknöpfen, und über jedem von ihnen hing ein transparenter Vorhang aus leuchtend ro- tem Stoff. Die passenden Kissen, die an das gepolsterte weiße Kopfteil des Bettes gelehnt waren, sahen aus wie riesige Blutstropfen.
In der Ecke gegenüber der Tür stand ein weißer Para- vent, der mit roten Drachen bemalt war. Dort sollte ich laut Wu Pengfeis Kleider aufhängen. Lungs Anzüge be- hielt ich bei mir und streckte den Arm aus, in dem ich sie hielt, als wollte ich das Gesicht ein wenig verlagern. »Sa- gen Sie mal«, meinte ich, während ich eine Ecke der auf- geklebten Folie löste, »welche Aufgaben haben Sie eigent- lich hier auf dem Boot?«
»Ich bin einfach ein Teil der Mannschaft«, sagte er und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, während er sich an der Ecke des Bettes postierte, die der Tür am nächsten war.
»Ja, ich meine, helfen Sie in der Küche oder beim Put- zen oder …«
»Ah, ich verstehe«, sagte er lächelnd. »Ich bediene die Gäste. Wir haben einige davon an Bord, obwohl die meis-
ten von ihnen noch schlafen, da sie versuchen, nach dem- selben Rhythmus zu leben wie Pengfei Yan und Chien- Lung.«
Ich beobachtete ihn aufmerksam, während er sprach. Hier drinnen, bei vorgezogenen Vorhängen und geschlos- sener Tür, konnte ich seinen Schild sehen, seinen genauen Umriss, der den Bewegungen seines Körpers folgte. Wie bei dem ersten Schröpfer, dem ich begegnet war, öffnete er sich hauptsächlich, wenn Wu den Kopf bewegte.
Ich konnte ihn erschießen, aber wenn ich es schaffte, eine Kugel hinter diesen Schild zu bringen, würden Blut und Hirnmasse durch den ganzen Raum spritzen, nicht zu vergessen der laute Knall, den der Rest der Mannschaft an diesem friedlichen Nachmittag wahrscheinlich ziem- lich ungewöhnlich finden würde. Aufgrund der Überle- gung, dass dabei auch reichlich Blut fließen würde und ich in meiner Rolle als Pengfei die Bude später vielleicht noch brauchen würde, war ich auch von einem Erstechungs- szenario nicht sonderlich angetan. Tja, das waren sowieso die Pläne B und C. Da sein Schild am Kopf Schwächen aufwies, wie ich
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