Man lebt nur zweimal
keine Geräte wie Laufband oder Crosstrainer zur Hand hat. Wenn ich in kleineren Hotels ohne Fitnessraum wohne und nicht gerade tischtennisballgroße Hagelkörner vom Himmel fallen, mache ich mich meistens vor dem Frühstück schon auf die Socken und laufe in den Morgen hinein. Wunderbar.
Allerdings neige ich nicht dazu, aus dem Laufen eine Religion zu machen, wie es diese ganzen Lauf-Päpste in ihren Jogging-Bibeln tun. Und wer behauptet, dass der Weg schon das Ziel ist, der hat meiner Meinung nach ein bisschen zu tief in diese Bibeln geguckt. Von einer übergroßen Leidenschaft kann bei mir nicht die Rede sein. Glücklich bin ich aber, wenn ich fertig bin mit dem Sport und unter der Dusche stehe. Man hat ein tolles Gefühl, den Körper so gefordert zu haben. Man könnte Bäume ausreißen. Alles davor ist zwar okay, aber wenn ich den gleichen Effekt ohne Sport erreichen würde, ich könnte gut darauf verzichten. Ich muss mir vielmehr immer wieder fest vornehmen, Sport zu treiben, und zwar schon deutlich vor dem eigentlich anvisierten Termin. Andere nennen das vielleicht Disziplin. Ich würde einfach sagen: praktische Lebenserfahrung. Ich halte es sogar für schädlich, dass die meisten Bücher etwas anderes versprechen. Viele Leute werden nämlich wieder aufhören mit dem Sport, weil sie denken, dass das bei ihnen nicht normal ist und dass sie die Einzigen sind, die nicht diese wahnsinnigen Glücksempfindungen dabei entwickeln, von denen in den Büchern immer die Rede ist.
Sicher ist, dass es ein tolles Gefühl ist, fit durchs Leben zu laufen. Die Treppen hochspurten zu können, auch mal zwei Stufen auf einmal, wenn’s sein muss. Und auch mal ein paar Stockwerke hintereinander. Fest steht auch, dass es einem nach dem Sport viel besser geht. Man fühlt sich wohl und glücklich in dem Bewusstsein, etwas für sich und seinen Körper getan zu haben. Es ist völlig normal, dass einem das aber kurz davor jedes Mal wieder entfällt. Man leidet quasi unter Amnesie und muss sich daher immer ein bisschen treten, um mit dem Training überhaupt anzufangen.
Mich wundert wirklich, was einem die großen Sportfans da an tollen Geschichten erzählen.
So heißt es ja zum Beispiel auch immer, dass man bei nichts so gut abschalten und seine Gedanken schweifen lassen könne wie beim Laufen. Ehrlich gesagt habe ich mich darauf sogar am meisten gefreut. Ich lief also immer brav meine Strecke am See zwischen St. Heinrich und Ammerland und wartete auf die großen Gedanken. Mindestens ein Drehbuch oder zumindest eine kleine Textstelle würde wohl dabei herausspringen, durfte man den Erzählungen der anderen nur annähernd Glauben schenken. Doch eher musste ich an den Mann denken, der beschlossen hatte, seine Träume aufzuschreiben.
Weil er davon überzeugt war, immer ganz großartige Dinge und wunderschöne Geschichten zu träumen und es sehr bedauerte, dass er sich am nächsten Morgen nie daran erinnern konnte, legte er sich einen Zettel auf den Nachttisch. Es gelang ihm in der Nacht darauf tatsächlich, eine kleine Notiz anzufertigen. Am nächsten Morgen stellte er zutiefst beglückt fest, dass etwas auf dem Zettel stand. Er nahm ihn zur Hand und las: »Junge liebt Mädchen.«
So ähnlich ergeht es mir beim Laufen. Auf die großen Gedanken warte ich bis heute.
Wenn ich die ganze Runde um den See schaffen will – das sind ungefähr 55 Kilometer – nehme ich das Rad. Auch das Radfahren ist mir anfangs nicht so leichtgefallen. Ich erinnere mich noch, wie ich überholt wurde an einer leichten Steigung kurz vor Bernried. Von einer Gruppe munter plappernder Damen mit der typischen grauen Lockenfrisur, wie sie gerne von älteren Frauen über siebzig getragen wird. Die drei saßen bequem auf ihren Sätteln, während ich stehend im zweiten Gang schon heftig strampelte und der Schweiß nur so an mir herunterlief. Sie beachteten mich kaum, weil sie so eifrig in ihr Gespräch vertieft waren. Ich atmete indes so schwer, dass an eine Unterhaltung nie im Leben zu denken gewesen wäre. Ich war nach diesem Überholtwerdenmanöver ziemlich geknickt und fühlte mich gleich noch einmal zwanzig Jahre älter.
Die Psyche spielt beim Sport eine wichtige Rolle. Ich habe einmal gelesen, dass man einen Gegner beim Radrennen am besten dadurch bricht, dass man ihn erst ganz nah an sich herankommen lässt, und dann, wenn er einen fast erreicht hat, noch einmal mit aller aufgesparten Kraft in die Pedale tritt, um ihn dann lässig und schnell hinter sich zu
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