Man lebt nur zweimal
wird gespielt, unten sitzen die Zuschauer. Aber auch da unten sitzen handfeste Schauspieler. Ich meine damit nicht den Kollegen, der mal zu Besuch kommt, um sich ein Stück mit mir anzusehen, sondern wirklich alle Leute im Publikum. Jeden Einzelnen.
Die wenigsten Menschen brauchen eine Schauspielausbildung, um ihren Mitmenschen etwas glaubhaft vorzugaukeln. Und sei es nur, dass sie sich ein wenig anders darstellen, als sie wirklich sind, oder sich über ein Weihnachtsgeschenk zu freuen vorgeben, das noch vor Sylvester im Keller landet. Ich will jedenfalls gar nicht wissen, wie viele dunkle Familiengeheimnisse die Leute im Zuschauerraum unter dem Deckel halten, wie viele Affären vertuscht werden, wie oft da Gefühl geheuchelt oder um größere Geldbeträge betrogen wird. Diese Managerseminare, in denen die Leute die freie Rede lernen oder überzeugender aufzutreten, sind ja letztlich auch nichts anderes als spezialisierte Schauspielschulen. Wenn wir uns im Alltag nicht ununterbrochen etwas vormachen würden, gäbe es pausenlos Streitigkeiten und Kriege. Wahrscheinlich ist unser aller Fähigkeit zu schauspielern ein reiner Selbstschutz. Wenn ich mir vorstelle, ich würde auch nur mal einen Tag lang durch die Gegend laufen und immerzu sagen, was ich wirklich denke – nein, das lass ich lieber.
Die Mentiologie ist die Wissenschaft von der Lüge. Und weil es zu jedem Lebensbereich Statistiken gibt, gibt es sie natürlich auch zu diesem Thema. Demnach lügen wir im Schnitt 200 Mal am Tag, Männer ein wenig häufiger als Frauen. (Vielleicht gehört der Teil der Statistik aber auch zu den 200 Lügen.) Meistens sind es kleine, nette Lügen, die den anderen schützen und uns einen kleinen Vorteil bringen, oft auch winzige Notlügen, die uns vor Strafe oder Unbequemlichkeit schützen oder in einem etwas besseren Licht erscheinen lassen. Ich glaube sehr an den Nutzen der frommen Lüge. Ich selber bin ein großer Lügner. Von klein auf an.
So habe ich meine Mutter zum Beispiel jahrelang in Bezug auf das Christkind belogen. Das hört sich seltsam an? Normalerweise ist es ja umgekehrt. Dass die Eltern ihre Kinder belügen und ihnen vormachen, es gäbe einen Weihnachtsmann und der bringe die Geschenke.
In meiner Familie war der Fall etwas komplizierter: An Heiligabend mussten wir immer in einem Vorraum vor der Wohnstube warten, während das Christkind uns einen Besuch abstattete. Erst läutete eine Glocke. Dann traf sich meine Mutter mit dem Christkind im Wohnzimmer, um meine Roller, Teddys und die neuen Fußballschuhe in Empfang zu nehmen.
Am Ende flog das Christkind durch das geöffnete Stubenfenster wieder hinaus in die Nacht. Das war genau der Moment, in dem wir das Zimmer betreten durften. Wenn meine Schwester und ich eintraten, winkte meine Mutter dem Christkind noch hinterher und schloss dann das Fenster. Wir bekamen das Christkind natürlich nie zu Gesicht. Es musste eilig weiterfliegen, es gab ja noch andere Kinder, die ebenfalls warteten und es war sowieso schon spät dran, weil die Kinder heutzutage viel zu viele Geschenke forderten.
Meine Mutter liebte diese Geschichten. Oft erzählte sie noch ein kleines, witziges Detail, das ihr in diesem Jahr am Christkind aufgefallen war. Mal hatte es ganz rote Bäckchen gehabt oder um ein Haar mein größtes Geschenk vergessen oder es klagte über die faulen Rentiere, die dieses Jahr besonders langsam waren.
Ich bin nun schon immer ein wissbegieriges Kerlchen gewesen, und so nutzte ich eine günstige Gelegenheit, als die anderen Erwachsenen im Vorraum abgelenkt waren, und linste durch das Schlüsselloch. Anstatt nun endlich zu erfahren, wie das Christkind aussah und ob es wirklich so rote Bäckchen hatte, ertappte ich meine Mutter bei einer infamen Lüge. Sie selbst läutete mit dem Glöckchen und drapierte auch eigenhändig die Geschenke unter dem Baum. Danach öffnete sie das Fenster, um den Eindruck zu erwecken, sie hätte das Christkind dort hinausgelassen. Doch außer ihr war gar nie jemand im Raum gewesen.
Kurz war ich empört und wollte meinem Unmut auf der Stelle Luft machen. Ich öffnete die Tür zu unserer Stube und wollte gerade loslegen. Da sah ich sie da stehen. Sie strahlte über das ganze Gesicht, schloss das Fenster und sah zu mir: »Schade, jetzt habt ihr’s wieder verpasst, Kinder. Aber ich soll euch schön grüßen.« Sie lächelte wieder und man sah ihr an, wie viel Freude es ihr machte, ihre Kinder in dem Glauben zu lassen, das es das Christkind
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