Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition)
fallen, krabbelte die Terrasse herunter, lief um den Kuhstall herum (es gab zwar eine Absperrung mit Seilen, die für die Kühe gedacht war, weil sie damals noch jeden Tag auf die Weide durften, aber ich war ja so klein, dass ich problemlos darunter durchgeschlüpft bin) und setzte mich in unsere Wiese gegenüber dem Königseder’schen Haus. Und dann hieß es einfach nur: warten. Denn irgendwann kam Rosa schon aus der Haustür, um entweder nach den Schildkröten, dem Kirschbaum oder ihrem Mann zu sehen oder Holz aus dem kleinen Schuppen neben der Garage zu holen, und dann sah sie mich und rief immer denselben Satz in ihrem weichen egerländisch gefärbten Bayerisch: »Ja, Mounigga (sie sprach meinen Namen immer wie »Mounigga« aus), geh weida, geh eina!«
Das war mein Stichwort. Ich rannte über die Straße – natürlich nicht, ohne nach rechts und links zu schauen, das hatte mir meine Mutter eingebläut – vorbei am Königseder Luggi, der mich mit einem sanften Gegrummel begrüßte, vorbei an den Schildkröten, drei Stufen rauf bis zur Haustür, und schwupps, schon war ich drin, in diesem kleinen Häuschen, wo der Kühlschrank im Flur stand, weil in der Küche kein Platz war und wo das Bad so klein war, dass ich mich immer wunderte, wie fünf Menschen sich täglich darin fertig für den Tag (oder die Nacht) machen konnten. Vor meiner Geburt lebten sogar noch Rosas Eltern mit im Haus, aber wie das auch nur ansatzweise möglich gewesen sein konnte, war mir ein absolutes Rätsel, denn alle in der Familie, auch die Rosa, waren ziemlich groß gewachsen. Aber nach dem Krieg war man halt froh, dass man überhaupt ein Dach über dem Kopf hatte, und dazu noch eines, das das eigene war. Welch ein Luxus! Da musste man halt ein wenig zusammenrücken, denn Platz ist schließlich in der kleinsten Hütte. Und das Besondere war nicht nur das Haus an sich: Gleich rechts, wenn man hineinging, war die separate Toilette, dahinter das winzige grüne Bad mit der elektrischen Wäscheschleuder, die immer einen Höllenlärm machte, gegenüber davon war das Elternschlafzimmer, und geradeaus ging man in die Küche, diese gemütliche Küche, die aussah wie ein größeres Puppenhaus: links neben der Tür war die Spüle und daneben der Holzofen, der vor allem im Winter heimelig vor sich hinbullerte. Geradeaus an der Wand ein bequemes Sofa und darüber das Radio, das eigentlich immer lief, daneben das Fenster, das in den Gemüsegarten ging, mit den orange geblümten Vorhängen, rechts hinter der Tür die circa zwei Meter lange, weiße Anrichte mit den Prilblumen und gegenüber die Eckbank und der Tisch mit seiner hellblauen Resopaloberfläche, der immer blitzsauber war und der eine Schublade hatte, in die die Rosa ihr Haushaltsbuch legte. Jede noch so kleine Ausgabe, jeder Einkauf wurden von ihr mit einem gespitzten Bleistift in dem Buch notiert, damit sie jederzeit einen Überblick über ihre Einnahmen und Ausgaben hatte und die Familie so nie über ihre Verhältnisse lebte. Wenn Rosa Königseder damals schon Kurse an der Volkshochschule gegeben oder ein Buch mit dem Titel »Wie ernähre ich mit wenig Geld eine große Familie« geschrieben hätte, dann wäre Peter Zwegat heute arbeitslos …
Im Eck war ein kleiner Herrgottswinkel mit einem Holzkreuz und den Bildern der verstorbenen Eltern und Schwiegereltern, bei denen immer frische Wiesenblumen standen. Und wenn man gerade in die Küche hineinspazierte, konnte man links durch die Tür in ein ebenfalls sehr kleines Wohnzimmer gehen, das mit einem kleinen Ölofen, einer dick gepolsterten Couch und einem großen Ohrensessel ausgestattet war, über dem ein kleines Holzkästchen hing, in dem die Rosa ihre Medikamente aufbewahrte. Rosa half bei einigen Bauern – auch bei meinen Eltern – bei der Feldarbeit mit, und ich habe oft gesehen, dass sie sich ihre Beine mit großen Bandagen umwickeln musste, weil sie Schmerzen hatte, aber für ständige Arztbesuche hatte sie einfach keine Zeit.
In der Ecke hatte sie eine riesige Persil-Tonne stehen, die bis zum Rand mit Bauklötzen gefüllt war, und eine PUMA -Schuhschachtel mit Matchbox-Autos. Selbst als ihre Kinder schon lange nicht mehr mit den Autos spielten, standen die Tonne und die Schachtel immer noch da, denn meine Brüder übernahmen später die Angewohnheit von mir, der Rosa ungefragt mehrmals die Woche einen Besuch abzustatten, wenn auch nicht ganz so häufig wie ich. Denn das Beste war: Bei der Rosa durfte man immer alles, nie hat sie
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