Man nehme: dich und mich
gerade dein hellgelbes Kleid gebügelt, und es passt perfekt zu einem sonnigen Tag wie heute.”
Nachdem Joy die Großmutter hinausgeführt hatte, schaute Frankie aus dem Fenster und sah Mike Roy und diesen Graves am Seeufer. Mike zeigte auf den Berg, der sich hinter dem Haus erhob, und gestikulierte mit den Händen.
Seufzend schob Frankie die Kommode neben das Bett und stellte die Tischlampe darauf. Auf diese Weise war das Loch erstmal verdeckt, ohne dass sie schon wieder einen Handwerker bezahlen musste.
Eine Stunde später verabschiedeten sich Mike und sein Gast endlich, und als Frankie dem Cadillac nachsah, wünschte sie sich, dieser ganze Besuch mit seinen Zwischenfällen hätte nicht stattgefunden.
Nate kam durch die Hintertür und stellte sich neben sie. “Wer war denn der Kerl mit dem Bart?”, fragte er. Er trug eine Sandwichtüte in der Hand.
“Ein Freund”, erwiderte sie. Nach allem, was Mike Roy für sie getan hatte, verdiente er diese Bezeichnung wohl. “Und wo willst du hin?”
“Auf den Berg. Ich wollte beim Essen die Aussicht genießen. Kommst du mit?” Er hob die Tüte hoch. “Das hier reicht für zwei.”
Eigentlich wollte sie Nein sagen, aber ihr Büro war noch immer durch den Klempner besetzt, und das Unkraut konnte wohl noch etwas warten. Sie hatte wirklich keine Lust, jetzt allein zu sein und die ganze Zeit über den Zwischenfall mit Grand-Em nachzugrübeln. Außerdem war sie schon lange nicht mehr auf dem Berg gewesen, und ein Spaziergang würde ihr guttun.
“Und mach dir keine Sorgen wegen der Höhenangst”, fügte Nate vertraulich hinzu. “Das passiert mir nur in Flugzeugen, auf Brücken und auf Balkonen. Na ja, und auf Leitern. Aber sonst bin ich stark wie ein Baum.” Er klopfte sich auf die Brust. “Ein ganzer Kerl.”
Frankie musste lachen. “Na, dann mal los, Tarzan, erklimmen wir den Gipfel.”
Der Pfad begann auf der anderen Seite der Landstraße und war mit einem großen, orangefarbenen “Durchgang verboten”-Schild markiert, weil das Gelände noch zum Besitz von
White Caps
gehörte. Frankie hatte es jedoch nie gestört, wenn Touristen hier wanderten.
“Kann man ganz bis nach oben fahren?”, fragte Nate.
“Nein, nur ein kurzes Stück.”
Schon bald waren sie von dichtem Wald umgeben. Es roch nach Kiefernharz und Pilzen, und Frankie spürte, wie ihre Anspannung nachließ.
Nach einer Weile zweigte der Pfad zum Gipfel vom Fahrweg ab, und sie schlug diese Richtung nach oben ein, während Nate geradeaus weitermarschierte.
“Wo geht’s denn dort hin?”, fragte er.
“Zum Friedhof. Aber da gibt’s nicht viel zu sehen. Lass uns den Weg nehmen, ja? Nate?”
Er antwortete nicht, sondern lief einfach weiter, und sie folgte ihm leise fluchend. Als sie das Tor aus unbehauenen Ästen erreichten, blieb sie stehen. Es diente vor allem dazu, Autos aufzuhalten, denn Fußgänger konnten einfach drum herumgehen – so wie Nate es bereits getan hatte. Geöffnet wurde das mit einer Kette gesicherte Tor nur dann, wenn eine Beerdigung stattfand.
Seufzend legte Frankie die Hände auf den obersten Ast. Auf der grasbewachsenen Lichtung vor ihr standen etwa zwanzig Grabsteine, alle aus schlichtem grauem Schiefer. Es gab keine Engelsstatuen oder Kreuze, nur einfache Steine mit Namen und Datum.
Nate stand vor einem der Gräber. “Das hier ist von 1827. Ist es das älteste?”
“Nein. Das war der zweite Sohn von Charles Moorehouse, Edward. Der erste starb schon als Kind, 1811.”
Ehrfürchtig berührte er den verwitterten Stein. “Edward ist auch jung gestorben. Er wurde nur fünfzehn.”
Sie nickte, und Nate ging langsam weiter. Früher hatte Frankie es tröstlich gefunden, über den Friedhof zu schlendern und die Namen auf den Steinen mit den Gesichtern auf alten, verblichenen Fotografien in Verbindung zu bringen. Doch jetzt standen dort zwei Steine, die einfach zu viele schmerzliche Erinnerungen weckten.
Ihre Eltern waren bei einem Bootsunfall auf dem See gestorben, und sie hatte nicht einmal an der Beerdigung teilgenommen – weil sie Angst gehabt hatte, vor allen Leuten die Fassung zu verlieren.
Als die Polizisten ihr damals die schlimme Nachricht überbrachten, hatte Joy sie zitternd gefragt, ob sie jetzt ins Heim müsse. Damals hatte Frankie sich geschworen, dass sie Joy die Eltern ersetzen würde. Sie wusste nicht, was man dafür tun musste, aber Weinen gehört bestimmt nicht dazu – also hatte sie nie eine Träne vergossen. Jedenfalls nicht vor
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