Manche Maedchen muessen sterben
könnte ich beinahe die Fenster zerschmettern. Als ich die Fotos betrachte, ist es, als würde man Alex aufwachsen sehen, eine Dokumentation scheinbar jedes wichtigen Ereignisses in seinem Leben, von seiner Geburt bis hin zu seinem Jahrbuchfoto aus der zehnten Klasse. Da sind Fotos von ihm am Weihnachtsmorgen, ein Einzelkind, das unter einem Baum sitzt, lächelnd neben einem kleinen Haufen Geschenke. Da ist ein Bild aus der Little League: Alex im Baseballtrikot, der einen Schlagstock schwingt; sein Grinsen ist schief und lässt seine Zähne sehen. Dann Alex bei einem Klavierkonzert: Er trägt Jackett und Krawatte und hat seinen Arm um die Hüfte seiner Mutter gelegt.
Erst jetzt wird mir klar, wie bizarr es ist, dass ich hören kann, was er auf dem Klavier spielt. Ich begreife nicht, wie das möglich ist. Doch die Musik ist so schön, dass ich sie nicht infrage stellen will.
»Was war das für ein Stück?«, frage ich ihn, als er fertig ist.
»Es hat keinen Titel.« Er senkt schüchtern den Blick. »Ich habe es selbst komponiert. Als ich fünfzehn war.«
»Ich glaube, das habe ich schon einmal gehört.« Und dann wird mir bewusst, bei welcher Gelegenheit. »Ja, das habe ich«, erkläre ich ihm. »Auf deiner Beerdigung.«
»Oh.« Er blickt weiter auf die Tasten. »Du hast recht.«
Einen Moment lang scheint er abgelenkt, während seine Miene wie entrückt wirkt und seine Hände von den Tasten gleiten. Fast, als wäre ich gar nicht hier, schließt er wieder die Augen. Doch diesmal ist es anders als zuvor. Diesmal sacken seine Schultern nach unten, und seine normalerweise aufrechte Haltung erschlafft. Mir wird bewusst, dass er davondriftet, in die Vergangenheit. Vielleicht ist das bloß ein Zufall; das hat er noch nie vor meinen Augen gemacht, abgesehen von jenem Tag, an dem ich starb, als er mir die unangenehme Szene in der Kantine zeigte.
Ich denke nicht über das nach, was ich als Nächstes tue; irgendwie passiert es einfach. Ich strecke die Hand aus und umklammere fest Alex’ Handgelenk. Ich schließe ebenfalls die Augen.
Zuerst weiß ich nicht, wo ich bin; alles, was ich sagen kann, ist, dass es sich um irgendein Geschäft handelt. Ich stehe vor einer Glastheke, die mit Reihen um Reihen kalorienreichen Essens gefüllt ist: Nudelsalate, panierte Hühnchenbrust, schimmernde, mit Zucker glasierte Lachsfilets, in Schinken gewickelte, geschmorte Jakobsmuscheln. Und die Desserts – oh Gott, allein ihr Anblick weckt eine Fressgier in mir, die mich tatsächlich einen Schritt zurücktreten lässt. Da ist ein Käsekuchen, gekrönt von großen, glasierten Erdbeeren. Daneben thront so eine Art Butter-und-Zimt-Torte mit Walnusskruste. Auf einem Silbertablett häufen sich Brownies, Kekse und üppige quadratische Buttertoffeestückchen.
»Oh«, sage ich; das Wort bleibt mir im Halse stecken. In meiner Stimme schwingt aufrichtiges Verlangen mit. Ich nehme an, dass ich jetzt, wo ich tot bin, nicht mehr zunehmen kann. Es wäre einfach himmlisch, wenn ich alles essen könnte, was ich möchte, ohne auch nur einen Gedanken an den Kaloriengehalt verschwenden zu müssen. Allerdings ist Geschmack jetzt ein fremdartiges Gefühl; ich glaube nicht, dass es mir irgendwelches Vergnügen bereiten würde, mich in Süßigkeiten zu wälzen.
»Verschwinde. Sofort.« Ich habe Alex noch nie so barsch reden gehört. Er steht direkt neben mir.
»Wo sind wir? Das ist eine deiner Erinnerungen, oder? Dieser Ort stammt aus deiner Vergangenheit.«
Er blinzelt nicht, sondern starrt mich nur finster an. »Du weißt, wo wir sind. Jetzt geh.«
Eine spröde wirkende Frau in mittleren Jahren tritt zwischen uns. »Hallo?«, ruft sie. »Arbeitet hier jemand?«
Sie legt ihre Hände auf den Tresen und trommelt mit ihren Fingernägeln ungeduldig gegen das Metall. Von ihrem schmalen Handgelenk baumelt ein Tennisarmband. Sie ist praktisch ganz in Weiß gekleidet, abgesehen von einem roten Seidenschal, der um ihren Hals geschlungen ist. Ihren Ringfinger ziert ein Marquise-Diamant von der Größe einer Murmel. Ihr feines graues Haar ist zu einem strengen Dutt gebunden. Selbst hier, an der Theke des Feinkostgeschäfts stehend, strahlt sie Klasse aus.
»Oh Mann …«, sagt Alex, der zusammenzuckt, als er sie nur ansieht. »Liz, du musst hier raus. Ich will nicht, dass du das siehst. Nichts davon.«
Dann dämmert es mir; natürlich weiß ich, wo wir uns befinden. Ich war unzählige Male mit meinen Freunden hier. Als ich mich umschaue, erkenne ich die von
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