Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
Vom Netzwerk:
meine Fingerspitzen anfühlen, als würden sie jeden Moment explodieren, und in weniger als einer Sekunde verwandelt sich mein Gefühl freudiger Euphorie in den Eindruck, lichterloh in Flammen zu stehen. Ich reiße meinen Arm fort.
    »Warum hätte er nicht hierherkommen sollen? Das hier ist eine Straße. Er ist ihr einfach gefolgt.« Ich mustere die Lücke zwischen unseren Leibern. Die Luft fühlt sich an, als wäre sie elektrisch aufgeladen; überall ist Energie. Kann Richie das spüren? Ich glaube, als ich noch am Leben war, hatte ich manchmal dieses Gefühl, nach einem langen Lauf: den Eindruck, dass alles um uns herum atmet; dass es so etwas wie einen leeren Raum nicht gibt; dass selbst die Luft eine gewisse Präsenz besitzt.
    Richie ringt weiter nach Atem. Mit dem unteren Saum seines T-Shirts tupft er sich den Schweiß von der Stirn. Seine hübschen, dunklen Locken kleben am Gesicht, und sein Blick ist beinahe ehrfürchtig auf das Haus vor sich gerichtet.
    Es ist ein kleines weißes Cape-Cod-Haus mit roten Fensterläden. Anderthalb Stockwerke beengter Neuengland-Stil. Kein schlechtes Zuhause, schätze ich, wenn man nicht allzu viel Wert auf Quadratmeter legt.
    Allerdings ist dies eine der schäbigeren Gegenden der Stadt: dicht beim Friedhof, weit weg vom Strand, und selbst jetzt, am helllichten Nachmittag, während die Sonne von oben auf uns herabscheint, wirkt die Umgebung, als läge ein Schatten auf ihr. Am Himmel zeigen sich keine Wolken, nichts, was den Sonnenschein tatsächlich abhalten würde. Und dennoch scheint eine gräuliche Schicht diesen Teil des Universums zu übertünchen, wie ein Netz, das die Luft irgendwie dichter werden lässt.
    Mein Freund sieht sich um, als würde er glauben, jemand sei ihm gefolgt. Ich! , will ich ihm zurufen. Ich bin es! Er geht auf das kleine weiße Haus zu, um die Seite des Gebäudes herum, zu der alleinstehenden Garage, und stellt sich auf die Zehenspitzen, um durchs Fenster zu schauen.
    »Alex«, sage ich. »Ich hab’s geschafft. Ich habe ihn berührt.«
    Doch dieser Durchbruch scheint Alex nicht zu interessieren. »Weißt du, wer hier wohnt?« Seine Stimme zittert.
    »Nein. Natürlich nicht.«
    »Warum natürlich nicht? Weil’s so mickrig ist?« Er versucht, mit dem Fuß nach einem Erdhaufen auf dem vorderen Rasen zu treten. Offensichtlich kann er das nicht; sein Fuß fährt geradewegs durch den Haufen, ohne die geringste Wirkung zu zeigen.
    Noch immer bin ich wie benommen von den Auswirkungen, die die Berührung mit Richie auf meinen Körper hatte. Ich umklammere mich selbst, die Arme um meinen Oberkörper geschlungen, bemüht, etwas von diesem Gefühl zu bewahren. Doch es entgleitet mir wie Sand, der durch ein Sieb rinnt. Ich kann es nicht verhindern. Alex’ bescheuertes Verhalten scheint mich von allen angenehmen Gefühlen fortzureißen, zu denen ich vielleicht imstande gewesen wäre, und mir wird bewusst, dass ich die Schmerzen in meinen Füßen einen Moment lang ganz vergessen hatte. Nun aber sind sie wieder da, so heftig, dass ich kaum stehen kann.
    »Ja«, sage ich, frustriert, weil ich das Gefühl der Berührung wegen Alex verloren habe. »Weil es mickrig ist. Ist es das, was du hören willst? Ich weiß nicht, was er in dieser Straße treibt oder warum er sich so für dieses spezielle Haus interessiert. Ich habe dieses Haus vorher noch nie gesehen . Keiner meiner Freunde lebt in diesem Stadtteil. Hier würde ich nicht einmal an Halloween sammeln gehen wollen, sonst hätte ich am Ende wahrscheinlich bloß einen Haufen lausiger Süßigkeiten aus dem Discounter im Beutel gehabt.«
    Nicht dass das eine Rolle gespielt hätte; ich habe sowieso niemals Süßigkeiten gegessen.
    »Was macht er dann hier?« Alex ist beinahe hysterisch. »Was will er hier?«
    »Ich weiß es nicht! Er sieht sich um. Er schaut … in den Briefkasten.« Ich halte inne. »Was?«
    Es stimmt; Richie sieht die Post durch. Er hält jeden Umschlag für einen Moment in die Höhe und nimmt ihn eingehend in Augenschein, bevor er sich den nächsten vornimmt. Sobald er sich alles angeschaut hat, steckt er die Post wieder zurück. Er wirft einen letzten, langen Blick auf das Haus. Dann setzt er seinen Weg fort und gewinnt rasch an Tempo, als er den Hang hinunter auf den Ort zuläuft.
    »Ich will reingehen«, sagt Alex.
    »Warum?«, frage ich.
    Das Gefühl der Trostlosigkeit, das sich rings um mich ausgebreitet hat, fühlt sich jetzt dichter an, schwerer; es hat sich zu einem Eindruck echten

Weitere Kostenlose Bücher