Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
Vom Netzwerk:
legt sie auf mein Handgelenk. »Bereit?«
    Ich werfe einen letzten Blick auf den alten Alex, der hinter dem Tresen steht. Mrs. Boyden und Chelsea gehen gerade. Sobald sie fort sind, dreht Alex sich um. Er atmet ein paarmal tief ein, schließt seine Augen und legt den Kopf in den Nacken. Dann geht er auf das Hinterzimmer zu. Als er über die Schwelle tritt, tritt er mit seinem in Turnschuhen steckenden Fuß fest gegen die Wand.
    »Ich bin bereit«, sage ich und nicke ihm zu. Ein Teil von mir will ihn nach dem, was ich gerade gesehen habe, umarmen und drücken. Doch ich weiß, dass für ihn allein mein Griff um seinen Arm schon schlimm genug ist. Alles, was ich war, und alles, was ich repräsentiert habe … Mir wird bewusst, dass er mich und meine Freunde nicht bloß einfach nur nicht mochte. Es war wesentlich komplizierter als das.
     
    Sobald wir zurück sind, scheint es, als gebe es nirgendwo Trost: nicht hier in Alex’ Elternhaus, nirgendwo. Abgesehen von der offensichtlichen Trauer meines Dads ist mein eigenes Elternhaus zu sehr von Leben und Energie erfüllt, während meine Stiefschwester und meine Freunde so offenkundig weiter ihren Weg gehen. Doch ich beginne zu glauben, dass es überall besser ist als hier; die Atmosphäre ist so vollkommen erstickend, der Kummer so greifbar, dass er um uns herum beinahe zu atmen scheint.
    »Darf ich dich etwas fragen?« Alex schaut zu mir auf, gegen das Klavier gelehnt. Sein Unterarm, der auf den Tasten ruht, produziert ein misstönendes Tongewirr, das mich zusammenzucken lässt. »Sicher«, sage ich, überzeugt davon, dass er mich nach nichts von dem fragen wird, was wir gerade gemeinsam gesehen haben. Zweifellos will er das Thema wechseln. »Hättest du je gedacht, dass das passieren würde? «, fragt er. »Dass du stirbst, wenn du noch jung bist?«
    Von der Treppe dringt ein Geräusch herüber. Eine Katze stolziert in den Raum. Es ist ein fettes, mehrfarbiges Tier mit langen, dicken Schnurrhaaren und einem bauschigen Schwanz, der durch die Luft schwingt, als würde er ein unsichtbares Gespinst durchschneiden. Was Tiere angeht, hatte Alex recht; es besteht kein Zweifel daran, dass die Katze uns sehen kann: Sie marschiert geradewegs zu Alex, streift schnurrend um seine Beine, wölbt ihren Rücken und setzt sich schließlich zu seinen Füßen hin. Ich bin mir nicht sicher, warum – immerhin ist es ja nicht so, als könnten wir tatsächlich mit dem Tier kommunizieren –, doch zu wissen, dass die Katze uns sehen kann, beruhigt mich irgendwie, genau wie der Umstand, dass es mir möglich ist, Alex’ Klavierspiel zu hören; spätestens jetzt bin ich mir sicher, dass unsere Verbindung zur Welt der Lebenden noch nicht vollends durchtrennt wurde.
    Und mit einem Mal empfinde ich für Alex großes Mitgefühl. Das liegt nicht bloß an dem, was ich gerade gesehen habe. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass wir uns in seinem Elternhaus befinden, das im Zuge seines Todes von so viel Kummer überschattet wurde.
    »Zu Lebzeiten war der Tod auch schon nichts Fremdes für mich«, erkläre ich ihm.
    Er blinzelt mich an. »Wegen deiner Mom?«
    Ich nicke. »Ja. Das ist schwierig zu erklären. Es ist, als … Es ist, als hätte der Tod einen Platz in meinem Herzen. Als ich neun war …« Allein, die Worte laut auszusprechen, schmerzt ungeheuer. Doch plötzlich will ich, dass er die ganze Geschichte kennt, die, die ich ihm vorenthalten habe, seit wir hier zusammen gelandet sind. Ich möchte, dass er sieht, dass ich einst ein kleines Mädchen war, so ähnlich wie er auf den Fotos auf dem Klavier; dass es eine Zeit gab, in der ich unschuldig und liebenswürdig war und nur sehr wenig über die gesellschaftliche Hackordnung wusste, die später als Teenager mein Leben bestimmen würde. Ich will, dass er weiß, was mir widerfahren ist, dass er versteht, warum das alles verändert hat.
    »Ich möchte dir etwas zeigen«, sage ich ihm.
    Er blinzelt noch ein paarmal. »Was denn?«
    »Leg deine Hand auf meine Schulter.«
    Er zögert. »Warum?«
    »Alex … Komm mit.« Mein Tonfall ist sanft. »Ist schon in Ordnung. Es gibt da etwas, von dem ich möchte, dass du es siehst.«
    Also kommt er meiner Aufforderung nach. Sobald ich seine Berührung spüre, schließe ich die Augen. Und dann sind wir dort.
    Es ist ein Sommertag, mitten am Nachmittag. Ich bin neun Jahre alt, und mein Dad ist in der Arbeit. Es ist Dienstag. Ich werde diesen Tag niemals vergessen.
    »Sieh dich an, so aufgetakelt«, merkt Alex,

Weitere Kostenlose Bücher