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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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nicht unfreundlich, an. Wir stehen im Schlafzimmer meiner Eltern. Da bin ich, noch ein Kind, und flaniere in einem Paar Riemchen-Highheels meiner Mutter im Raum hin und her. Ich trage einen bodenlangen Pelzmantel und einen eleganten Pillbox-Hut, die beide meiner Mutter gehören. Ich werfe mich vor dem Spiegel in Pose, die Hände in die Hüften gestemmt, stolzierend wie ein Topmodel, während ich mit meinen Wimpern klimpere und einen Kussmund mache. Meine Lippen sind in einem Rotton gehalten, der – das werde ich niemals vergessen, niemals – Purpurhitze heißt. Ich habe Mascara und Eyeliner und große rosa Rougekreise aufgetragen, und während ich mich selbst betrachte, erinnere ich mich überdeutlich daran, dass ich kaum glauben konnte, wie hinreißend ich aussah. Meine Fingernägel sind selbstklebend. Ich halte einen Kugelschreiber zwischen meinem Zeige- und Mittelfinger und führe ihn an den Mund, um tief zu inhalieren und so zu tun, als würde ich rauchen. Genau wie meine Mom.
    Als ich mich anschicke, vor dem Spiegel eine wacklige Drehung zu vollführen, dröhnt dieser unglaubliche Krach durchs Haus, die Art von Lärm, die ohne jeden Zweifel mit einem gewaltigen Schlamassel einhergeht. Ich blicke durch den Raum, zur geschlossenen Tür des Badezimmers meiner Eltern, wo meine Mom gerade duscht. Mein neunjähriges Ich braucht ein paar Sekunden, um zu begreifen, was ich da sehe.
    »Was ist los?«, fragt Alex.
    Ich kann kaum sprechen. Alles, was ich tun kann, ist, zu dieser Tür hinüber zu starren. Ich dachte, jetzt würde es anders sein, doch mir wird rasch klar, dass es nicht weniger schrecklich ist, alles noch einmal mit anzusehen, wie beim allerersten Mal, neun Jahre zuvor. »Warte einfach ab«, bringe ich flüsternd hervor.
    Durch den Spalt unter der Tür beginnt Wasser ins Zimmer zu sickern, zuerst langsam, dann in lautlosen, grässlichen Strömen, die von dem weißen Teppich sogleich aufgesogen werden. Es ist, als würde man sich einen Zaubertrick anschauen: Sobald der Teppich nass wird, färbt er sich rot.
    »Lass uns gehen, okay?«, sage ich zu Alex und starre mein jüngeres Ich panisch an; ich weiß, was gleich passieren wird, und mit einem Mal tut es mir leid, dass ich ihn mit hierhergebracht habe. Ich dachte, ich käme damit klar, aber das stimmt nicht. Ich will das nicht sehen, nicht noch einmal. Einmal, mit nur neun Jahren, genügt vollkommen.
    Doch er schüttelt den Kopf. »Ich will es wissen, Liz.«
    »Dann bleib hier. Ich gehe.«
    »Nein.« Sein Griff um meine Schulter wird fester. »Ich kann nicht ohne dich hierbleiben. Liz … bitte?«
    »Warum zwingst du mich dazu, mir das anzusehen?«, flehe ich.
    »Es war deine Idee, es mir zu zeigen! Warum hast du mich dann überhaupt erst hergebracht?«
    Ich starre ihn an. »Weil ich möchte, dass du mich verstehst. Ich möchte, dass du siehst, dass ich genau wie du war. Ich war nicht immer ein schlechter Mensch.«
    Er starrt zurück. »Dann lass mich sehen, was passiert.«
    Ich halte mir die Augen zu, während er zuschaut. Ich brauche nicht hinzusehen, denn ich weiß bereits, was geschehen wird.
    Mit neun Jahren laufe ich ins Badezimmer, und da ist sie: Oh Mami. Bei ihrem Sturz hat sie die Glastür der Dusche zertrümmert, und die Splitter haben sie förmlich in Stücke geschnitten.
    Ich tue all das, was man von einem kleinen Mädchen erwarten würde. Ich versuche, sie aufzuwecken, ihr irgendwie zu helfen; dabei schneide ich mir an dem ganzen zerbrochenen Glas meine eigenen Hände und Knie auf. Ich schreie sie an, sie soll aufstehen. Ich schüttle sie. Nichts auf der Welt ist schlimmer als ihre vollkommene Reglosigkeit.
    Dann sehe ich, wie sie ihren letzten Atemzug tut. Selbst als Kind begreife ich, dass sie tot ist. Ich glaube, dass in diesem Moment mein Herz brach. Für alle Zeiten.
    »Ich will hier weg«, wiederhole ich; meine Stimme klingt, als wäre ich den Tränen nahe. »Bitte, können wir jetzt gehen? Alex, bitte ?«
    Er lässt meine Schulter los. Wir sind wieder in seinem Elternhaus. Doch es ist zu spät; die Erinnerung ist zurück, an vorderster Front. Ich kann ihr nicht entfliehen.
    Für andere Leute in meinem Alter scheint der Tod keine reelle Option zu sein. Wie jedermann weiß, neigen Jugendliche dazu zu glauben, sie seien unsterblich. Aber ich bin mir nicht sicher, dass ich jemals so empfunden habe. Ich kannte den Tod zu gut. Ich habe zugesehen, wie er meine Mutter geholt hat; so etwas vergisst ein Kind nicht.
    Alex wendet den Blick von mir

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