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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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ab. Er scheint nicht zu wissen, was er sagen soll.
    Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen und schüttle den Kopf, versuche zu vergessen, was ich gerade zum zweiten Mal in meinem Leben gesehen habe. Obwohl die Erinnerung daran mich stets begleitet hat, seit es passiert ist, fühle ich mich jetzt, nachdem ich es von neuem aus erster Hand miterleben musste, zittrig, tief betrübt und sehr unbedeutend. Ich fühle mich wie ein kleines Mädchen, ganz allein auf der Welt. Doch ich glaube nicht, dass ich Alex das alles erklären kann. Ich bereue bereits, ihm den Tod meiner Mutter gezeigt zu haben; ich kann es nicht ertragen, dass er mich jetzt so aufgewühlt sieht, so verletzlich.
    Ich starre an ihm vorbei, auf den Druck vom Letzten Abendmahl , der an der Wand hängt. »Also, um deine Frage zu beantworten: Vielleicht gab es so etwas wie eine Vorahnung«, erkläre ich ihm, um einen gelassenen Ton bemüht. »Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht daran. Du dich auch nicht, oder?«
    »Nein.« Er schlägt eine langsame Version von »Heart and Soul« an und schaut auf die Klaviertasten hinab. »Bevor du starbst, habe ich so viel Zeit damit zugebracht, neben der Straße zu sitzen und einfach bloß zuzusehen, wie die Autos vorbeifahren. Meine Eltern haben einen Kranz an den Baum genagelt, dicht bei der Stelle, wo man meinen Leichnam fand. Anfangs sind sie jeden Tag dorthin gegangen, und dann bloß noch einmal in der Woche.« Er platziert seine Hände eine Oktave tiefer und fängt an, das Stück noch einmal zu spielen. »Die ganze Zeit über habe ich auf jemand anderen gewartet. Ich dachte, dass derjenige, der mich angefahren hat, irgendwann dort auftauchen würde. Ich wartete und wartete.« Er schüttelt den Kopf. »Nichts.«
    Es folgt eine lange Pause. Schließlich sagt er: »Du warst noch ein kleines Mädchen. Es tut mir leid, dass dir das passiert ist.«
    Ich starre zu Boden. »Danke.«
    Die Katze zu seinen Füßen hat sich bis jetzt träge die Pfoten geleckt; jetzt hält sie plötzlich inne und schaut mich an. Ihre Pupillen weiten sich, als sie mich anstarrt. Sie langt mit ihrem ausgestreckten Vorderbein nach mir, die Krallen ausgefahren.
    Alex’ Hände wandern nach wie vor über die Klaviertasten. Er neigt mir den Kopf zu; in dem dunklen Raum wirken seine Augen glasig. Mir fällt auf, dass seine Zähne immer noch genauso schief sind wie auf dem Little-League-Foto. Ich nehme an, er hat niemals eine Zahnspange getragen; mir geht auf, dass seine Eltern sie sich vermutlich nicht leisten konnten. »Nichts von alldem ergibt Sinn, Liz. Begreifst du das nicht?«
    Ein Wagen biegt in die Einfahrt. Wir hören, wie sich das Garagentor öffnet.
    Ich fühle mich verunsichert, als wären wir hier eingebrochen; als würden Alex’ Eltern gleich hereinkommen und uns erwischen. »Wie meinst du das?«
    Alex denkt jetzt angestrengt nach, plötzlich aufgeregt. Seine Atmung beschleunigt sich. Er umklammert mit einer Hand mein Handgelenk. Seine Berührung fühlt sich kalt und schlaff an; sie fühlt sich tot an. »Damit meine ich genau das, was ich gerade gesagt habe. Die Dinge machen keinen Sinn. Denk mal drüber nach. Fragst du dich denn nicht, was hier los ist, Liz? Wieso zum Beispiel ist Richie zu meinem Elternhaus gekommen? Ich verstehe das nicht. Du vielleicht?«
    Ich schüttle den Kopf. »Nein. Du weißt mehr als ich.«
    »Das kann kein Zufall sein«, sagt er. »Ebenso wenig, dass du und ich jetzt zusammen hier sind. Wir sind Geister. Warum? Wir waren keine Freunde.« Er wirft einen raschen Blick zur Tür; ein Schlüssel klappert im Schloss. »Ich habe dich gehasst«, sagt er.
    »Ich weiß. Es tut mir leid. Du musst mir glauben, Alex – mir war nicht klar, wie grässlich ich war. Früher war ich anders. Nach dem Tod meiner Mom hat sich alles verändert.«
    »Dir war bloß Materielles wichtig«, sagt er schlicht. »Klamotten und Autos und Partys. Handys und Handtaschen und … Schuhe.« Er starrt auf meine Stiefel. »Das hat dir ja viel gebracht. Und jetzt bist du hier, mit mir.«
    Wir sehen einander an. Die Vordertür geht auf.
    »Bitte«, bettle ich. »Lass uns jetzt abhauen.«
    »Warum, Liz? Was ist los?«
    Ich schaffe kaum mehr als ein Flüstern. »Ich kann nicht atmen.«
    »Was weißt du? Warum sind wir hier?«
    »Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht.«
    »Was wolltest du mit dem ganzen Geld in deinem Zimmer anfangen? Warum hattest du vor allen Geheimnisse?«
    »Ich weiß es nicht!« Die Katze huscht davon. Ich schließe

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