Manhattan Blues
Showdown kurz bevor. Dann ging er leise hinaus und
wartete an der Ecke. Die Kälte steigerte seinen Zorn noch, obwohl er nicht ganz
wußte, worauf er zornig war.
Er war überrascht, als Alicia das Kino allein verließ. Er hatte
erwartet, daß sie und Anne noch eine Tasse Kaffee trinken oder einen Drink
nehmen würden, doch Alicia bog an der Ecke in Richtung Uptown ab. Sie war
nervös. Sie hatte diesen leicht stelzenhaften, nervösen Gang, den Walters
CIA-Ausbilder »das Truthahnwatscheln« genannt hatten. Sie ging schnell, ließ
den ganzen Fuß bis zu den Zehen abrollen, aber schnell.
Einer der Ausbilder, ein mondgesichtiger Riese namens Fischer, hatte
einen anderen Ausdruck gebraucht. Seine Maxime war gewesen: »Warme Hände, kalte
Füße. Wenn man sich schuldig gemacht hat, verbreitet sich eine Infektion von
den Händen direkt in die Füße. Je wärmer die Hände, um so kälter werden die
Füße. Die Lösung liegt wie immer im Kopf. Man muß vergessen, was man in den
Händen hat, sonst hat einen die Opposition beim Arsch.«
Doch Alicia konnte sich nicht der Weisheit Fischers rühmen, und was
immer sie in den Händen hatte — und Walter konnte nichts weiter erkennen als
dieselbe einfache Handtasche, mit der sie gekommen war —, es beschäftigte sie
sehr. Er hoffte zu Gott, daß Anne nicht so dumm war, Marihuana zu kaufen und es
an ihre Freunde zu verschenken.
Er folgte Alicia zur no. Straße, wo sie nach Osten abbog und zwischen
Broadway und Amsterdam ein Gebäude betrat. Er behielt das Haus im Auge, bis er
Licht angehen sah und Alicias Silhouette im vierten Stock hinter einer dünnen
Gardine erschien.
Dem Gebäude direkt gegenüber lag ein Coffee Shop am Broadway, und er
hatte das Glück, einen Fensterplatz zu bekommen. Der Kaffee war zwar ebenso
scheußlich wie die Spiegeleier und der Schinken, doch es war wenigstens warm in
dem Lokal, und er konnte von dort Alicias Apartment im Auge behalten. Er
beendete seine Mahlzeit und ging zum Münztelefon hinten im Lokal.
»Ist es zu spät anzurufen?« fragte er Anne, als sie abnahm.
»Für dich ist es nie zu spät, Liebling.“
»Du hörst dich außer Atem an.“
»Ich bin gerade reingekommen.“
»Woher?«
»Ich war auf dem Land, hast du das vergessen?« sagte sie. »Ich hab's
dir doch gesagt. Ich bin raufgefahren, um meine Eltern zu besuchen.«
Wann werden Amateure endlich lernen, unter tausend Wahrheiten eine
winzige Lüge zu verstecken? fragte er sich.
»Hallo, Walter?« hörte er sie sagen. »Bist du noch da?«
»Ich bin noch da.«
»Wo ist >da«
»In einem Coffee Shop«, erwiderte er. »Ich bekam plötzlich Hunger,
und nach Kochen war mir nicht zumute.«
Sie sagte: »Hör mal, ich würde dich gern bitten herzukommen, aber ich
bin offen gestanden ziemlich erledigt. Das mußt du auch sein.«
»Völlig kaputt«, sagte er.
»Außerdem bin ich morgen total ausgebucht«, sagte sie. »Ich bin den
ganzen Tag im Studio und anschließend im Rainbow Room. Kannst du kommen?«
»Ich werd's versuchen.«
»Ja bitte, versuch's«. Pause »Also dann, frohe Weihnachten.«
»Frohe Weihnachten.«
Er hängte ein, ging zu seinem Platz zurück und schluckte den letzten
bitteren Kaffeesatz, ließ einen Quarter auf dem Tisch und ging in die Kälte
hinaus. Da er kein Taxi sah, ging er an der no. Straße zur U-Bahn hinunter,
kaufte sich eine Marke und ging den Bahnsteig entlang.
Warum lügen? dachte er. Warum lügt sie mich an?
Es störte ihn zutiefst, weil er wußte, was alle guten Ermittler
wissen: Es ist nicht die Substanz der Lüge, auf die es ankommt, sondern das
Motiv für die Lüge.
Himmel, dachte er, »Motiv«. Jetzt denke ich an Anne und benutze dabei
Wörter wie »Motiv«. Du lieber Himmel.
Der Bahnhof war leer am Weihnachtsabend, und er hörte ihre Schritte,
bevor er sie sah.
Es waren zwei, zwei weiße Kerle mit dem albinohaften Aussehen der
hoffnungslos Süchtigen und dem dummen Grinsen der unwiderruflich Verblödeten.
Es war das übliche Räuber-Gespann, einer groß, einer klein. Der Kleine war
gerade schlau genug, für den anderen den Speichellecker zu spielen, während der
Größere gerade dumm genug war, ihm die Rolle abzunehmen.
Von Finesse jedenfalls keine Spur, dachte Walter. Nicht auf einem
menschenleeren Bahnsteig spätabends. Sie gehen einfach drauflos. Wozu Zeit
verschwenden und die Anstrengung, etwas subtiler vorzugehen?
Sie waren noch knapp zwei Meter entfernt, als der Kleinere die Klinge
aufblitzen ließ, ein böses Klappmesser mit
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