Manhattan Blues
warmen Holz der Tanzfläche wie Eis wirkten.
Dieser Fußboden war fürs Tanzen wie geschaffen. Sein Parkett war zu einem
komplexen Mosaik ineinander verschlungener Kreise zusammengesetzt, die sich in
einem schwarzen Stern in der Mitte trafen. Die Tanzfläche war dazu gemacht, die
Schwerkraft und damit die Reibung aufzuheben, um Liebende wie auf Luft dahingleiten
zu lassen, befreit von der Anziehungskraft der Erde und ihrer eigenen irdischen
Unbeholfenheit. Und die Gesichter der Liebenden leuchteten an diesem Abend
ebensosehr wie das von Madeleine Keneally. Sie spiegelten sich in den tausend
Kristallen des Kronleuchters, der an der gewölbten Decke über dem Saal wie ein
zertrümmerter Stern funkelte.
»Würden Sie gern nicht tanzen?« fragte Marta Walter und gab in ihrer
gebrochenen Syntax Walters genauen Gemütszustand wieder. Er würde tatsächlich
gern nicht tanzen, würde vielmehr liebend gern nicht tanzen, würde in Wahrheit
gern gehen und mit der Sängerin nach Hause fahren.
Annes scharfe Noten schneiden heute abend wie ein Rasiermesser,
dachte Walter. Nein, nicht wie ein Rasiermesser - wie ein Eiszapfen. Sie ist
eine glänzende Sängerin, knödelt nicht, ist keine Schnulzensängerin, kann jedes
Wort singen und ihm jede Färbung geben, die sie will. Walter war überzeugt,
daß Anne selbst die Gelben Seiten von Manhattan hätte singen und ihnen einen
erotischen Unterton geben können. Umgekehrt konnte sie auch ein Liebeslied wie April in Paris, das sie im Augenblick gerade sang,
in eine Anklage verwandeln.
Walter kannte die Anklagepunkte. Schuldig des Zusammenseins mit Marta
Marlund, einer hochgewachsenen Schönheit aus dem Norden mit blauen Augen und
einem großen Busen, von dem der größte Teil heute abend zur öffentlichen
Beschau entblößt war.
Diese Eifersucht war unfair, wie Walter wußte. Unfair nach ihrem
Verrat am Heiligen Abend — war es ein Verrat gewesen? —, doch das weibliche
Gerechtigkeitsgefühl hatte für Walters Geschmack wenig - wenn überhaupt etwas -
mit moralischer Symmetrie zu tun. Nein, das Gerechtigkeitsgefühl einer Frau
ist eher kreisförmig statt linear. Es ist für Anne absolut in Ordnung, sich mit
einer anderen Frau zu treffen, aber bei mir sieht das schon ganz anders aus.
Vielleicht wäre sie nicht so zornig, dachte Walter, wenn ich mit einem anderen
Mann zusammen wäre.
Es liegt natürlich auch gerade an dieser Frau, nicht wahr? dachte
Walter. Marta Marlund war die Art Frau, die andere Frauen wütend macht, wenn
sie nur einen Raum betritt. Doch damit gab sich Marta nicht zufrieden. Sie
füllte dazu noch den Raum um sich herum mit einer bedrohlichen Sexualität. Da
gab es keine Maske, keine Kompromisse. Marta lag immer im Bett.
An diesem Abend ganz besonders. Sie trug ein silberfarbenes Kleid,
das aussah, als könnte es an ihrem Körper so leicht heruntergleiten wie Regen.
Wenn sie sich vorbeugte, was sie oft tat - bewußt und schamlos in einer Parodie
von Sinnlichkeit, die deswegen jedoch nicht weniger sinnlich war —, schienen
ihre Brüste hervorzuquellen wie Milch. Und wenn sie einen Mann dabei erwischte,
daß er hinsah — und die Männer sahen hin —, lächelte sie, als wollte sie sagen: Ich kann es dir wirklich nicht verdenken, ja, ist Sex nicht
wundervoll? Es war ein Lächeln, das nichts weiter versprach als
Möglichkeiten. Jeder Mann wußte, daß Marta Marlund sich weit öffnen würde, wenn
sie mit ihm ins Bett ging — falls es überhaupt dazu kam. Sie würde einen Mann
auffordern, in jeden Teil dieses üppigen, milchigen, feuchten, heißen, kalten
Körpers einzudringen.
Anne Blanchard wußte es auch, und es machte sie wütend. Als sie Walter
wieder einen eiskalten Blick zuwarf, reichte es ihm. Er dachte, genug ist
genug, und sagte: »Ja, legen wir eine Sohle aufs Parkett.«
Martas verwirrtes Gesicht bei diesem Ausdruck war absichtsvoll
bezaubernd, und er nahm sie bei der Hand und zog sie hoch.
Der Champagner hatte ihr stärker zugesetzt, als er geglaubt hatte.
Sie war beschwipst — was sie noch willfähriger erscheinen ließ —, und es kam
ihm vor, als würde der ganze Saal zusehen, als er sie zur Tanzfläche führte.
Natürlich sah ihnen auch Madeleine nach. Sie setzte ein falsches Lächeln auf,
als Joe sich zu ihr umdrehte und sie wölfisch angrinste.
Das Lächeln schien Marta zornig zu machen, und sie klebte an Walter
wie eine Tapete. Sie drückte ihre Brüste an seiner Brust platt und machte mit
den Beinen kaum wahrnehmbare kreisrunde Bewegungen an
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