Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
schätzen. Stattdessen wartete ich ohne Gott und mit verbundenen Augen auf meine Exekution durch Unbekannte. Ich hatte das Richtige getan und das Falsche gekriegt. Hätte eine Textzeile aus einem Dr.-John-Song sein können.
Irgendwo zwischen der 30 th und der 29 th Street vibrierte mein Handy.
»Boss?«, fragte Zephyra.
»Ja.«
»Was steht heute an?«
»Nicht viel.«
»Das GPS Ihres Handys sagt mir, dass Sie unterwegs in den Süden Manhattans sind. Wollen Sie Charles besuchen?«
Ich durfte nicht vergessen, die Tracking-Funktion zu deaktivieren.
»Ja«, sagte ich. »Soll ich ihm irgendwas ausrichten?«
»Nein. Grüßen Sie ihn einfach von mir.«
Ich ging ziemlich schnell und schaffte es noch vor neun bis zur Kreuzung Charles und Hudson Street im West Village. Einen Viertelblock in östlicher Richtung und sieben Granitstufen abwärts lag eine kleegrüne, mit Stahl verstärkte Tür, die ein Sondereinsatzkommando oder einen vorrückenden Zug russischer Milizen hätte aufhalten können. Ich musste nur davorstehen, damit eine unbedruckte weiße Karte in meiner Brieftasche einen Impuls sandte und den Bewohner des unterirdischen Bunkers auf meine Anwesenheit aufmerksam machte.
Dreißig Sekunden nach meinem Eintreffen sagte eine Stimme: »Komm rein, LT .«
Ich drückte gegen die Tür, sie ging auf, ich trat ein, und das überwiegend stählerne Portal fiel hinter mir zu. Alles wirkte wie immer, Raum für Raum, vollgestopft mit elektronischen Geräten, die Informationen sammelten, unverhohlen spionierten und hin und wieder auch aggressivere Aktionen provozierten.
Drei Kammern weiter befand sich ein höhlenartiger Raum, der vormals das Schlafzimmer des Souterrain-Apartments gewesen und jetzt ebenfalls mit Computern und Ventilatoren vollgestellt war. Inmitten der kühlen Elektronik stand ein runder Kunststofftisch mit einer ausgesägten mannsgroßen Lücke. Auf dem Tisch waren zwölf Plasma- und LCD -Monitore aufgereiht, über die Zahlen, Texte und undefinierbare Farbwellen flimmerten.
In der ausgesägten Lücke saß ein karamellfarbener junger Adonis, auf der Stirn eine Brille mit einem blauen und einem roten Glas. Damit konnte er, wie ich wusste, Bilder betrachten, die sich aus Farben jenseits der menschlichen Wahrnehmung zusammensetzten.
»Hey, Bug«, sagte ich.
Als ich Tiny »Bug« Bateman (geboren als Charles Bateman) kennen gelernt hatte, hatte er 270 Pfund auf die Waage gebracht. Irgendwann im Laufe unserer Geschäftsbeziehung war er auf Zephyra Ximenez aufmerksam geworden und hatte sich in ihre Stimme am Telefon und ein Bild von ihr im Internet verliebt. Sie hatte ihm erklärt, dass er sich zunächst in Form bringen müsse, wenn er auch nur die geringste Chance bei ihr haben wollte.
Iran wurde sein Trainer, und achtzehn Monate später hatte Bug dreiundvierzig Prozent seines Körpergewichts und sechzig Prozent Fett verloren. Er nahm jetzt an Zehn-Kilometer-Läufen teil und stemmte liegend Hundertachtzig-Kilo-Gewichte.
»Leonid«, begrüßte mich der schöne junge Mann.
»Bug«, sagte ich. »Demnächst bereit für einen Marathon?«
»Niemals.«
»Wieso nicht?«
»Weil ein gewisser Pheidippides, der erste Mensch, der die Distanz gelaufen ist, die später als Marathon bekannt wurde, die griechische Armee vor einem feindlichen Angriff warnen wollte. Das hat er auch geschafft, doch die Anstrengung hat ihn umgebracht, und ich bin nicht lebensmüde.«
»Hast du meine SMS bekommen?«, fragte ich. Ich hatte Bug von unterwegs um Informationen gebeten, die ich benötigte.
»Ja. Warte, ich ruf die Sachen auf.«
Ich dachte, während er arbeitete, könnte ich ein paar Wissenslücken stopfen.
»Zephyra hat nach dir gefragt«, begann ich.
»Oh?«
»Ja. Hörte sich an, als wollte sie wissen, was du so treibst.«
Das Computergenie lächelte.
»Was ist los, Bug?«
»Als wir uns die ersten Male trafen, hat Z mir erklärt, dass sie nicht der Typ exklusives Mädchen sei. Sie sagte, sie habe mehrere männliche Freunde und wolle nicht, dass einer von ihnen klammerte. Also haben wir die Verabredung getroffen, uns nur ein, höchstens zwei Mal die Woche zu treffen. Einmal hab ich sie angerufen, als ich es besser gelassen hätte, denn sie war offensichtlich mit jemand anderem zusammen. Von da an bin ich selber mehr ausgegangen. Ich habe eine Frau namens Marcia kennen gelernt, Leiterin der Western-Hemisphere- IT -Services für die Euro-Bank. Ich hab ein Leck gestopft, das sie hatten, und sie hat mich zu einer Woche
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