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Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman

Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman

Titel: Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
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nächsten Haltestelle aufstehen, damit er bei der Bremsung so tun konnte, als würde er das Gleichgewicht verlieren, um dann blitzschnell zuzugreifen. Leute aus seiner Branche verfügten zumeist über sehr gute Koordination und extreme Geschicklichkeit.
    Etwa fünfzehn Sekunden, bevor es losgehen sollte, hüstelte ich. In den Ohren eines Taschendiebs hätte ich genauso gut brüllen können: »Haltet den Dieb!«
    Er blickte kurz auf, und ich schüttelte kaum merklich den Kopf.
    Er lächelte, nickte, stand auf und ging zum anderen Ende des Waggons.
    »Ma’am«, rief ich über den Gang hinweg.
    »Was?«, fragte die schwatzhafte Schwarze dezidiert unfreundlich.
    »Ihre Tasche ist offen.«
    Ihre Reaktion war komplett vorhersehbar. Zunächst packte sie ihre Handtasche und durchwühlte sie. Ein rotes Portemonnaie trieb an die Oberfläche. Zudem galt es noch Handy und MP3-Player zu überprüfen. Schließlich klappte sie die Tasche zu, starrte mich an und fragte sich, ob ich sie irgendwie hereingelegt hatte. Dann schmolz ihr trotziger Blick, und sie sagte widerstrebend »Danke«, als wäre ich ein schadenfrohes Kind, das sie darauf hingewiesen hatte, dass man ihre Unterwäsche sehen konnte.
    Das architektonische Äquivalent des unauffälligen Taschendiebs war ein Gebäude mit grauen Wänden ein paar Blocks nördlich der Stelle, an der früher das World Trade Center gestanden hatte. In der Lobby gab es weder einen Wachmann noch einen Portier; Namen oder Titel des Mannes, zu dem ich wollte, suchte man im Verzeichnis der Bewohner vergebens.
    Ich nahm die Treppe in den siebten Stock, betrat den dunkelgrünen Flur, bog rechts ab und folgte einem schmalen Korridor vorbei an fünf permanent verschlossenen Bürotüren. Nur hinter der unscheinbaren sechsten Tür herrschte Leben.
    Ich klopfte und wartete. Eine Minute verstrich, doch ich klopfte nicht noch einmal. Eine weitere Minute verging, und ich wartete geduldig. Ein paar Sekunden später ertönte ein lautes Klicken. Die Tür öffnete sich von selbst, und ich trat ein.
    Das Vorzimmer zum Büro des wichtigen Mannes war so karg, wie es ein funktionierendes Büro überhaupt sein kann. Es gab einen braunen Metallschreibtisch mit einem schlichten Drehstuhl sowie einen Klappstuhl in der Ecke. An den hellgrünen Wänden hingen keine Bilder, auf dem fleckenlosen, versiegelten Holzboden lag kein Teppich. Es gab nicht mal einen Lichtschalter, sondern nur zwei helle Stehlampen in gegenüberliegenden Ecken des Zimmers.
    Hinter dem Schreibtisch saß aufrecht wie ein Schullehrer in einem Norman-Rockwell-Gemälde ein weibisch wirkender Schwarzer von gut vierzig Jahren mit einer goldenen Brille. Er lächelte nicht. Seine dunkelrote Krawatte war dünn genug, um als Bolo-Tie durchzugehen, dazu trug er einen engsitzenden schwarzen Anzug mit abgewetztem Revers.
    Dieser Mann war Christian Latour.
    Wie bereits erwähnt, war es das Jahr 2008, und obwohl Rasse nach wie vor ein wichtiger Faktor der amerikanischen Kultur war, hatte das Konzept eine weitreichende Verwandlung durchgemacht. Ein Schwarzer kandidierte als Präsident. Ein anerkannt sehbehinderter Schwarzer residierte im Gouverneurssitz in Albany. Weiße amerikanische Kinder und Erwachsene hatten Idole wie Snoop Dogg und Tiger Woods. Wir lebten nicht mehr in einer Zeit, in der Schwarze im Bus nach hinten gedrängt oder von den Medien ignoriert wurden.
    Als ich diesen hochmütigen, hageren Zerberus vor mir sah, erinnerte ich mich, dass mein Vater mir einmal erklärt hatte: »Es gibt keinen schlimmeren Sklavennamen als Christian. Bill, Robert, Joseph und Dorothy sind alle genauso typische Sklavennamen. Jeder Name, der dem Eroberer huldigt, ist eine Verbeugung vor seiner Dominanz. Aber seine Religion als Namen anzunehmen ist, als würde man vor ihm auf die Knie fallen.«
    Mein Vater hatte Christian Latour nie getroffen. Dieser Mann war der Inbegriff von Trotz. Er hatte den Namen nicht an-, sondern ihn vielmehr den Menschen abgenommen, die ihn einmal besessen hatten. Er saß auf seinem schlichten Thron wie ein katholischer Kardinal, und niemand hätte ihn je als unterwürfig oder Opfer bezeichnet.
    »Mr. McGill«, sagte er weder zur Begrüßung noch als Frage. Es war lediglich eine Feststellung.
    »Mr. Latour«, antwortete ich.
    »Sie haben keinen Termin.«
    »Ich hatte nicht die Muße, einen zu vereinbaren.«
    Ich mochte Christian. Er war so rechtschaffen in seiner Mönchszelle. Er hatte einen der wichtigsten Jobs in der westlichen Hemisphäre, und

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