Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman
und musterte sie mit einer Eindringlichkeit, die ihm selbst nicht bewusst war. Ich glaubte, seinen Blick deuten zu können. Er dachte, dass irgendwas an meiner knappen Erklärung nicht stimmte,und überlegte, ob ich abgesehen von dieser Lüge ein Problem darstellte oder okay war. Nach einer Weile kam er zu dem Schluss, dass ich zumindest okay genug war.
»Biegen Sie am Ende der Straße links ab«, sagte er. »Das zweite Gebäude auf der rechten Seite, Nummer vier. Dort sitzt die Personalabteilung. Aber ich weiß nicht, was die Ihnen erzählen können.«
»Danke«, sagte ich und fuhr weiter.
Ich stellte den Wagen auf dem vom Wachmann beschriebenen Parkplatz ab, ging jedoch nicht ins Personalbüro, sondern auf der anderen Seite um das Gebäude herum auf eine große Wiese, wo sich ein paar Dutzend Patienten und ihre Betreuer sonnten.
Die Szenerie erinnerte mich an keine andere Nervenheilanstalt, die ich kannte. Das Personal trug grau-weiße Kleidung, die nur wegen der farblichen Übereinstimmung wie eine Uniform wirkte, während die Patienten gekleidet waren, wie es ihnen gefiel. Das Ganze hätte auch eine Altenwohnanlage in Florida sein können, wenn nicht etliche Insassen mittleren Alters oder sogar noch jung gewesen wären.
Ich schlenderte umher, ließ die Atmosphäre des Ortes auf mich wirken und versuchte, etwas, irgendwas von der Umgebung zu begreifen, in der Willie Sanderson gelebt hatte. Er war meine einzige lebende Verbindung zu der Mordverschwörung.
»Hallo, junger Mann«, sagte eine weiße Frau.
Sie war älter, etwa fünfundsiebzig, trug ein wild türkis und smaragdgrün gemustertes Sommerkleid und hielt einen rosafarbenen Sonnenschirm in der Hand. Sie saß auf einer rosa-violetten gusseisernen Bank.
»Hallo«, sagte ich.
»Sind Sie ein Besucher?«
»Ich schätze schon«, sagte ich und setzte mich neben sie.
»Das wissen Sie nicht?« Sie war klein mit großen Augen und hatte sich jede Menge Rot auf die schmalen Lippen geschmiert.
»Nun«, sagte ich leichthin, »ich bin kein Patient, und ich arbeite nicht hier, was bleibt da noch übrig?«
Die ältere Frau lächelte und grinste dann breit. Ihre Zähne waren nicht besonders gepflegt, doch ihre Heiterkeit überstrahlte die mangelnde Hygiene.
»Kennen Sie jemanden hier?«, fragte sie.
»Ich kenne jemanden, der früher hier war.«
»Und wer soll das sein?«
»Ein Bursche namens Willie Sanderson.«
»Willie«, sagte sie mit wehmütigem Staunen in der brüchigen Stimme. »Ja. Er wollte mir nicht mit allem helfen, doch er hat mir Träume gebracht, wenn ich sie brauchte. Aber er ist nicht mehr hier. Sie haben ihn weggeschickt. Alle Guten haben sie weggeschickt. ... Glauben Sie, eine alte Frau, die den Wunsch hat, mit Männern zusammen zu sein, ist krank?«, wechselte sie unvermittelt das Thema, als wäre es ein lauer Sommerwind und sie Mutter Natur.
»Überhaupt nicht«, antwortete ich und trimmte meine Segel nach ihrer Laune. »Eine Frau ist eine Frau bis zu dem Tag, an dem sie stirbt.«
»Meine Familie ist da anderer Ansicht«, sagte sie. »Da saß ich mit meinen siebenundsechzig Jahren und einem Mann, der so schlaff war wie ein löchriger Luftballon,während ich im Herzen noch jung war. Und nicht nur dort.«
Ihr Ton war gleichermaßen einnehmend wie zweideutig. Ich mochte sie.
»Wollen Sie hier raus?«, fragte ich sie ganz ernst. Auf mich machte sie einen völlig normalen Eindruck, und ich war immer auf der Suche nach Arbeit, egal wie schlimm es wurde.
Die Frage weckte die Aufmerksamkeit des alten Mädchens. Sie hörte die Ehrlichkeit in meiner Stimme, so wie der Wachmann am Tor die Lüge gehört hatte.
»Nein«, sagte sie. »Ich werde älter und finde es leichter, das, was ich brauche, hier zu bekommen.«
Die Antwort schien das Ende von irgendwas zu markieren. Ich nutzte die kurze Flaute, um meine Frage anzubringen.
»Kannten Sie Willie sehr gut?«
»Ist er tot?«
»Nein. Aber er liegt im Krankenhaus.«
»O je. Was ist passiert?«
»Er ist in eine Schlägerei geraten.«
»Er hat sich immer gern geprügelt«, sagte sie nickend. »Er war ein netter Junge, aber so jähzornig. Nein, ich kannte ihn nicht besonders gut. Wir waren nicht so befreundet, wie ich es gern gehabt hätte. Aber er stand Bunny sehr nahe. Sie und Willie waren schon Freunde, bevor er hierherkam. Er hat ihr Liebe gebracht. Keine fleischliche Liebe wohlgemerkt. In gewisser Weise hat Willie Bunny verehrt.«
»Ist Bunny hier irgendwo?«
»O nein. Sie bleibt immer nur
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