Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman
respektlos behandelt hat«, informierte er mich. »Der Richter hat ihn für unzurechnungsfähig erklärt. Seine Tante arbeitete für irgendwelche reichen Weißen, und die haben ihn ins Sunset Sanatorium gesteckt. Die Ärzte haben ihm ein paar Tabletten gegeben und gesagt, er ist geheilt und kann nach Hause gehen, doch Willie gefiel es dort, hat einen Job als Pfleger angenommen. Alles lief prima, bis rauskam, dass er verschreibungspflichtige Medikamente aus dem Medizinschrank vertickt und die wohlhabenden Patienten der Klinik mit Drogen versorgt hat.«
Am Ende dieser Rede zuckte er die Schultern und blickte mir in die Augen.
Stumm verwarf ich den Gedanken, auch nach Fell zu fragen, da dessen Leiche meines Wissens noch immer unentdeckt war.
»Vielen Dank, Mr. Jones«, sagte ich.
Diese Antwort überraschte ihn.
»Sonst wollen Sie nichts wissen?«
»Nein. Warum?«
»Ich weiß nicht. Ich dachte, Sie hätten vielleicht gehört, dass Willie für mich gearbeitet hat, als er in dieser Irrenanstalt war.«
»Haben Sie ihn nach New York geschickt, um mich umzubringen?«, fragte ich.
»Nein.«
»Ich wollte bloß ein bisschen was über den Mann in Erfahrung bringen, der versucht hat, mich zu ermorden. Wenn Sie damit nichts zu tun haben, habe ich keine weiteren Fragen.«
Big Mouth schien mich endlos anzustarren. Er war Herr seiner Welt, weil er auf jedes Detail achtete.
»Was halten Sie von Brenda?«, fragte er schließlich. »Ich werde ihr einen Plattenvertrag besorgen, wissen Sie.«
»Sie ist eine wunderschöne Frau, aber ...«
»Aber was?«
Ich stand auf.
»Aber«, sagte ich, »Sie haben hier drin auf der Bühne eine Soul-Sängerin und vor der Tür all die Nachwuchsschläger, die ihre Rap-Reime üben. Und wissen Sie was: Das einzige ›los‹, das schlimmer ist als ›respektlos‹ ist ›zusammenhangslos‹.«
Big Mouth starrte mich stirnrunzelnd an, doch ich war schon auf dem Weg nach draußen.
34
Auf der Rückfahrt ins Hotel rief ich Katrina an.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Alles bestens. Ich bin in Albany, um ein paar Dinge zu überprüfen.«
»Sei vorsichtig.«
»Ja, bin ich.«
Als ich aufgelegt hatte, wurde mir klar, dass mein Zorn auf Katrina von Ereignissen herrührte, die lange vergangen waren und keine Rolle mehr spielten. Ich war nicht mehr wütend auf sie, und sie war ehrlich um mein Wohlergehen besorgt. Wie bei Frank Baums Blechmann fehlte nur ein Herz.
Ich schlief lang und fest auf dem alten Bett. Es war eines der wenigen Male, an die ich mich erinnern konnte, in denen ich nicht von Feuer und freiem Fall träumte. Undurchlässige Vorhänge hielten die Strahlen der Sommersonne ab, und ich wachte erst um kurz vor sieben auf. Ich wusch und rasierte mich und zog einen sauberen Anzug an, der genauso aussah wie der, den ich am Abend zuvor getragen hatte. Ich aß Rührei mit Schinken und verschlang dabei die Albany Times Union auf der Suche nach einem Wort über Norman Fell. Er harrte offenbar immer noch seiner Entdeckung.
Nach dem Frühstück ließ ich mir von der Concierge den Weg erklären und fuhr etwa fünfundzwanzig Meilen Richtung Südosten aus der Stadt.
Das Sunset Sanatorium lag abseits des Highways hinter einem Ahornwald. Das zehn Meter breite, gusseiserne Tor war rosa-violett lackiert, und die Straße, die zu dem Häuschen des Wachmanns führte, war aus echtem Kopfsteinpflaster. Die Gebäude jenseits des Torhäuschens waren aus Backstein und mit Efeu bewachsen. Das Ganze erinnerte eher an den Campus einer Elite-Uni als an eine Nervenheilanstalt.
Als ich neben dem Häuschen hielt, stellte sich mir ein Schwarzer in einer taubenblauen Uniform und einer dunkelblauen Kappe mit schwarzem Schirm in den Weg.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.
Ich überreichte ihm eine Visitenkarte, die besagte, dass ich Ben Trotter war, Privatdetektiv aus Newark.
»Ich sammele Informationen über Willie Sanderson«, erklärte ich, während er las.
»Willie arbeitet nicht mehr hier«, informierte mich der dunkelbraune Mann mittleren Alters.
Er war klein und dünn, eine Statur für die Langstrecke – die Art Mann, der sein halbes Körpergewicht in Tabak oder Baumwolle von entlegenen Feldern herbeitragen konnte.
»Ja«, sagte ich. »Ich weiß. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem er versucht hat, einen Mann zu töten. Mein Klient will wissen, warum.«
Der Wachmann war wie ich und viele unserer Brüder Abkömmling einer langen Linie von Argwohn. Er kniff in eine Ecke meiner Karte
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