Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman
nicht nötig gewesen, aber in meinem Beruf nimmt man jedes Training mit, das sich bietet.
Kurzatmiger als mir lieb war, klopfte und klingelte ich an der Wohnungstür von Apartment G. Ich klopfte noch einmal, wartete drei Minuten und fand dann an dem Ring in meinem Werkzeugkasten den passenden Generalschlüssel.
In Manhattan werden Gebäude mit Wachmann nur selten ausgeraubt, deshalb sind die Schlösser in der Regel alt, und es gibt häufig nur eins.
Aus Bugs Bericht wusste ich, dass Leslie Bitterman jeden Tag zur Arbeit ging. Er hatte keine Frau. Mardi besuchte nachmittags Sommerkurse an der Schule, ihre Schwester war in einer Tages-Ferienbetreuung.
Die Wohnung sah aus wie ein Puppenhaus für Erwachsene. In dem kleinen Flur stand auf einem Ahorntisch eine Vase mit zwei Dutzend Seidenrosen. Die Rosen waren nie abgestaubt worden. Doch das war die einzige Spur von häuslicher Nachlässigkeit.
Der Rest der Wohnung war makellos, Esszimmer, Küche und Wohnzimmer waren tiptop aufgeräumt, genau wie die Zimmer der Mädchen. Leslies Schlafzimmer war erkennbar männlich, jedoch nicht übertrieben. Wolldecken und ein Kopfkissen. In der ganzen Wohnung waren die Jalousien heruntergelassen.
Das Arbeitszimmer war der erstaunlichste Raum. Das einzige Zugeständnis an Bequemlichkeit war ein abgetretener, fleckiger roter Teppich unter Schreibtisch und Stuhl. Es gab einen Computer und eine Telefonleitung, die er für seine archaische Internetverbindung nutzte.
Ich schaltete den Computer ein, doch er war passwortgeschützt. Ich steckte einen speziellen Sender in einen der USB-Ports und rief Tiny »The Bug« Bateman an.
»Wie ich sehe, haben Sie ein Set-up für mich«, meldete der Hyper-Nerd sich. »Geben Sie mir eine Minute.«
Der Bildschirm wurde schwarz, bevor ein Strom grüner Zeichen über den Monitor flimmerte. Nach etwa sechzig Sekunden sagte Bug: »Sie sind drin. Rufen Sie mich an, wenn es irgendwelche Probleme gibt.«
»Ist er online?«
»Jetzt schon.«
»Viel Aktivität?«
»Nein, er hinterlässt kaum einen Fußabdruck. Sieht aus wie ein paar Online-Zeitungen und der E-Mail-Account seines Büros.«
»Kannst du den Inhalt seiner Festplatte runterladen?«
»Er ist ein altmodischer Typ. Haben Sie meine Crossbox angeschlossen?«
»Hm-hm.«
»Es wird eine Weile dauern, aber kein Problem«, sagte er und legte auf.
Bei der Durchsicht der Ordner auf der Festplatte entdeckte ich nichts Ungewöhnliches. Bitterman hatte Dateien von seinem Büro heruntergeladen, offenbar legal. Es sah einfach so aus, als würde er manchmal von zu Hause aus arbeiten. Es gab jede Menge Textdokumente: Briefe an einige wenige Verwandte, Beschwerden an Unternehmen, die seiner Ansicht nach ihre Versprechen nicht gehalten hatten, sowie hunderte weiterer Textdateien. Eine von ihnen hieß JOURNAL01. Ich hoffte,dass ich darin einen Hinweis finden würde, warum mein Sohn und die Tochter des Mannes planten, ihn umzubringen. Doch dem war nicht so. Nie habe ich eine derartig langweilige Chronik eines Lebens gelesen. Er schrieb in quälender Ausführlichkeit über das Frühstück, das er gerade zu sich genommen hatte, und Dinge, die mit seinem Job zu tun hatten. Das einzig Seltsame war, dass er seine Kinder nie erwähnte.
Trotz einer Stunde Herumstöberns auf seinem Computer hatte ich absolut nichts gefunden. Allem Anschein nach waren sein einziges Hobby farbenprächtige Fotos von Zootieren. In buchstäblich hunderten von Dateien hatte er Zebras, Affen, Tiger und Seepferdchen gesammelt.
Beim Scrollen durch sämtliche Dokumente stieß ich nur auf eine Merkwürdigkeit. Jeder Dateiname bestand aus ein oder zwei ganzen Wörtern, die den Inhalt bezeichneten. Eine Datei jedoch hieß nur TI. Als ich versuchte, sie zu öffnen, erschien auf dem Bildschirm ein wirrer Maschinen-Code. Ich klickte den Programmordner an und entdeckte ein Programm mit demselben Namen.
Nachdem ich zehn Minuten durch die digitalen Fotos geblättert hatte, wollte ich losgehen und den wütenden Vater aus dem Zug suchen. Ich wollte mich bei ihm entschuldigen. Zumindest liebte er seinen Sohn, auch wenn er diese Liebe ein wenig ungelenk ausdrückte. Was Leslie Bitterman getan hatte, war dagegen unverzeihlich.
Es waren gut über tausend Fotos von einem nackten Mann und einem Kind in den obszönsten Positionen.Das Mädchen auf den Fotos war zwischen acht und zwölf Jahren alt, die Pubertätshormone waren noch nicht aktiv geworden. Manchmal lächelte sie, manchmal weinte sie, mit offenem
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