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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Dollar in Wellington nicht mehr allzu viel erwarten kann. Es verblüfft ihn ein wenig, als der Mann hinterm Empfangsschalter auf Vorausbezahlung besteht, aber da er mit den örtlichen Bräuchen nicht vertraut ist, spart er sich jeden Protest. Der Portier, der Serge Tobaks Zwillingsbruder sein könnte, zählt die vier Fünfzigdollarscheine nach, wirft sie in eine Schublade unter dem zersprungenen Marmortresen und reicht Brick den Schlüssel für Zimmer vierhundertsechs. Unterschrift oder Ausweis werden nicht verlangt. Auf Bricks Frage nach dem Aufzug erwidert der Mann nur, der sei außer Betrieb.
    Ein wenig außer Atem, nachdem er vier Stockwerke zu Fuß hinaufgestiegen ist, schließt Brick die Tür auf und betritt sein Zimmer. Das Bett ist gemacht, die weißen Wände sehen aus und riechen wie frisch gestrichen, alles ist vergleichsweise sauber, doch als er sich genauer umsieht, packt ihn ein namenloses Grauen. Das Zimmer wirkt so kahl und abweisend, es kommt ihm vor, als seien hier im Lauf der Jahre Dutzende von Leuten zu keinem anderen Zweck abgestiegen als dem, sich das Leben zu nehmen. Was vermittelt ihm diesen Eindruck? Ist es seine eigene Gemütsverfassung, fragt er sich, oder lässt es sich tatsächlich belegen? Das karge Mobiliar, zum Beispiel: Ein Bett und ein altersschwacher Schrank – sonst steht nichts in diesem viel zu großen Raum. Kein Stuhl, kein Telefon. Keine Bilder an den Wänden. Das leere, trostlose Bad: ein winziges, noch verpacktes Stück Seife auf dem weißen Waschbecken, am Haken ein einziges weißes Handtuch, dazu die Rostflecken in der weißemaillierten Wanne.
    In ständig wachsender Unruhe geht Brick im Kreis, beschließt, den alten Schwarzweißfernseher neben dem Fenster anzumachen. Vielleicht beruhigt ihn das, denkt er, oder vielleicht hat er Glück, und sie bringen gerade Nachrichten über den Krieg.
    Als er auf den Kopf drückt, ertönt ein hohles Zischen aus dem Kasten. Ein gutes Zeichen, sagt er sich und wartet, dass der Apparat seine Betriebstemperatur erreicht, aber auch dann bleibt der Bildschirm leer. Nur Schneegeriesel und ein fauchendes Knistern. Er wechselt den Kanal. Mehr Schnee, mehr Knistern. Er dreht den Senderknopf weiter überall das gleiche Bild. Statt den Fernseher einfach wieder auszuschalten, reißt Brick das Kabel aus der Wand. Als er sich auf das uralte Bett sinken lässt, knarrt es unter dem Gewicht seines Körpers.
    Bevor er ganz in sinnlosem Selbstmitleid versinken kann, klopft es an der Tür. Zweifellos ein Angestellter des Hotels, denkt Brick, hofft aber insgeheim auf Molly Wald, der es auf irgendeine Weise gelungen sein könnte, sich für ein paar Minuten aus dem Imbiss fortzuschleichen, um sich zu vergewissern, dass es ihm gutgehe. Eher unwahrscheinlich, sicher, und kaum hat er die Tür aufgeschlossen, ist seine flüchtige Hoffnung auch schon zunichte. Sein Besucher ist nicht Molly, es ist aber auch kein Angestellter des Hotels. Vor ihm steht eine große attraktive Frau mit dunklem Haar und blauen Augen, schwarzen Jeans und brauner Lederjacke – ihre Kluft ähnelt der, die Sarge Serge ihm am Morgen gegeben hat. Als Brick ihr Gesicht betrachtet, ist er sich sicher, sie schon einmal gesehen zu haben, doch zu der Frage nach dem Wo oder Wann will sich keine Erinnerung einstellen.
    Hallo, Owen, sagt die Frau mit einem strahlenden, etwas spröden Lächeln, und er bemerkt, dass sie leuchtend roten Lippenstift aufgetragen hat.
    Kenne ich Sie nicht?, sagt Brick. Zumindest kommt es mir so vor. Oder Sie erinnern mich an jemanden.
    Virginia Blaine, erklärt die Frau in munterem Ton, ja fast triumphierend. Erinnerst du dich etwa nicht? Du warst mal in mich verknallt – in der zehnten Klasse.
    Du liebe Zeit, murmelt Brick ratloser denn je. Virginia Blaine. Wir haben in Miss Blunts Geometriestunde nebeneinandergesessen.
    Willst du mich nicht reinlassen?
    Doch, doch, natürlich, sagt er, gibt den Türrahmen frei und sieht sie über die Schwelle schreiten.
    Nachdem sie einen Blick durch den unerquicklich kahlen Raum geworfen hat, wendet Virginia sich ihm zu und sagt: Was für ein abscheuliches Zimmer. Warum bist du ausgerechnet hier abgestiegen?
    Das ist eine lange Geschichte, antwortet Brick, der jetzt nicht darauf eingehen will.
    Glaub mir, Owen, das hier ist nichts für dich. Wir werden dir etwas Besseres suchen müssen.
    Morgen vielleicht. Für heute Nacht habe ich bereits bezahlt, und ich glaube kaum, dass man mir das Geld zurückgeben wird.
    Hier gibt es ja nicht mal

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