Mann meiner Sehnsucht (German Edition)
der Schulter, zur Hütte. Hope folgte ihm, ängstlich und verunsichert und so allein wie nie zuvor in ihrem jungen Leben. Aber schon bald stellte sie fest, dass das Herz des alten Mannes, so grimmig er auch nach außen wirkte, aus demselben Material gemacht war, nach dem er schon fast sein halbes Leben lang suchte – aus Gold. Der Verlust seines Sohnes, den er schon so viele Jahre nicht mehr gesehen hatte, lastete schwer auf seinen Schultern, doch er war es nicht gewohnt, seinen Schmerz offen zu zeigen oder gar, ihn mit anderen zu teilen. Also litten sie schweigend, jeder für sich allein. Nachts, wenn sie glaubte, ihr Großvater würde es nicht hören, weinte Hope in ihr Kissen, aber tagsüber, in seiner Gegenwart, sprach sie nicht über ihre Gefühle. Es war ihr Großvater, der eines abends unvermittelt sagte:
“Erzähl mir von ihnen.”
Hope brauchte nicht zu fragen, wen er meinte. Obwohl sie bereits seit über einem Monat bei ihrem Großvater lebte, hatte er sie nicht ein einziges Mal nach ihren Eltern gefragt und warum das Schicksal sie ausgerechnet zu ihm geführt hatte. Dabei hätte sie so gerne darüber gesprochen. Sie hatte stets ihr Herz auf der Zunge getragen, ermutigt durch die Liebe ihrer Eltern, deren Verständnis sie sich immer hatte gewiss sein können. Und auf einmal waren sie fort gewesen, unwiederbringlich dahingerafft durch die unerbittliche Hand des Todes. Sie war umgeben gewesen von Fremden, angsterfüllt und allein, und auch der Großvater, den kennen zu lernen sie sich auf ihrer Reise gefreut hatte, war ein kalter, abweisender Fremder für sie gewesen, der kein tröstendes Wort, keine mitfühlende Geste für sie erübrigt hatte. Sie hatte sich danach gesehnt, über ihre Eltern zu sprechen, sie zumindest in ihrer Erinnerung wieder lebendig werden zu lassen – und dennoch hatte sie diesen Augenblick auch gefürchtet.
Hastig wandte Hope den Kopf ab, als ihre Augen sich mit Tränen füllten. Verstohlen wischte sie sich übers Gesicht, konnte aber nicht verhindern, dass die feuchten Spuren ihres Kummers ihr nur noch stärker über die blassen Wangen rannen.
“Es war meine Schuld”, krächzte sie schließlich mit hängenden Schultern, unfähig lauter zu sprechen, weil ihr der Schmerz die Kehle zuschnürte. Sie sah nicht, wie sich die Augenbrauen ihres Großvaters bei ihren Worten missbilligend zusammenzogen.
“Was war deine Schuld?”, wollte er wissen.
“Dass sie gestorben sind.”
“Red keinen Unsinn!”, stieß er hervor. “Wie kann es deine Schuld sein?”
“Weil ich die Masern als erste bekam.” Hope schlug die Hände vors Gesicht und kroch förmlich in sich zusammen. “Die Leute auf dem Treck und auch die in der Stadt haben es gesagt”, schluchzte sie und verlor ihren heroischen Kampf gegen den Schmerz. Aufschluchzend wandte sie sich ab und wollte davon stürmen, aber die starken Arme ihres Großvaters hielten sie zurück.
“Lass mich los!”, schrie Hope und trommelte mit ihren kleinen Fäusten gegen seine Brust. “Lass mich los! Lass mich los!”, aber er ignorierte sie. Statt dessen zog er sie noch fester an sich. Seine Umarmung war ungelenk, so als wäre er es nicht gewohnt, jemanden zu umarmen, aber dennoch sanft und beruhigend. Mitfühlend streichelte er Hope über den schmalen Rücken, bis sie sich entspannte und sich gegen ihn sinken ließ. In Sekundenschnelle war sein Hemd durchnässt von ihren Tränen, und Hope krallte ihre Finger in den verblichenen Stoff, aber es störte ihn nicht. Geduldig spendete er seiner kleinen Enkelin Trost.
“Die Leute in der Stadt sind Dummköpfe”, brummte er und wiegte sie leicht hin und her. “Du solltest nicht darauf hören, was sie sagen.”
“Erzähl mir von deinen Eltern”, bat er dann, und Hope kam dieser Aufforderung mit Freuden nach. Sie erzählte von dem Treck, mit dem sie nach Westen gefahren waren, von den vielen Tieren und der endlosen Weite der Prärie. Sie erzählte von den Flüssen, die sie durchquert und den Bergen, die sie überwunden hatten. Sie erzählte von den anderen Kindern auf dem Treck, aber am meisten erzählte sie dem alten Mann von seinem Sohn und seiner Schwiegertochter, die er niemals kennen gelernt hatte.
Erschrocken hielt Hope inne, als sie bemerkte, dass dem alten Herren Tränen über die Wangen rannen.
“Großvater, du weinst ja!”, rief sie aus und starrte ihn an. Dann schlang sie ihre dünne Ärmchen um seinen Hals und presste sich an ihn. “Soll ich aufhören?”, wollte sie wissen,
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