Mann mit Anhang
Schule das
kleine Einmaleins gelernt, mein Fräulein«, erklärte er trocken, »ich kann
zählen.«
»Wohnen Sie in München?«
»Ja. In Harlaching.«
»Oh.« Es stellte sich heraus,
daß ihre derzeitigen Arbeitgeber ebenfalls in Harlaching wohnten, nur wenige
Straßen von Guttings Haus entfernt. Hoffentlich kam Goggi nicht zufällig des
Weges, wenn er Fräulein Kurz mit ihrer Blumenbürde vor ihrem Haus absetzte. Das
fehlte gerade noch.
Als er hielt, blickte sie ihn
an wie einen Gott, der im nächsten Augenblick auf seinem Wolkensessel wieder
verschwindet. »War das vorhin wirklich ernst gemeint?«
»Natürlich. Mit Babys scherzt
man doch nicht. Ganze Lebensgeschichten können auf einem Baby basieren. Meine
zum Beispiel.« Er reichte ihr die Hand und ließ sie aussteigen. »Ich rufe Sie
bestimmt Anfang des Jahres an, so oder so.« Dann sah er sie auf das Haus
zueilen, die rechte Schulter ein klein wenig hochgezogen und die Blumen wie ein
zerbrechliches Heiligtum im Arm haltend. Ein Mädchen ohne Reize, aber ein
gutes, liebes und zuverlässiges Ding mit einer angenehmen Stimme und einer
unaufdringlichen Art. Sie würde eine nette Hausgenossin abgeben und mit Goggi
großartig auskommen.
Jacky war auf den Sitz, den
Angelika Kurz verlassen hatte, nachgerückt. Er mochte zwar fremde Menschen im
Auto seines Herrn nicht, aber er schätzte vorgewärmte Plätze.
Auf dem Weg zum Hotel ertappte
Gutting sich bei riskanten Überlegungen. In der R. Gutting Kosmetik KG, kaum
eine Viertel-Fahrstunde von hier entfernt, machten die Leute jetzt Schluß.
Feierabend. Seine Sekretärin blies den Staub des Radiergummis von ihrer
Schreibmaschine und klappte dann den mächtigen schwarzen Blechkasten darüber. Herr
Numik, der Hauptbuchhalter, stand noch herum und regte sich nachträglich über
irgendeine kleine Geschichte auf. Es war jeden Tag dasselbe. Er brauchte diese
kleinen Aufregungen, wie andere ihren Kaffee oder ihre Zigarette brauchen, und
wenn sie ihm nicht von selbst zufielen, konstruierte er sie. Der dicke
Albrecht, die Ruhe selbst, würde Herrn Numik zu beruhigen suchen, aber
Choleriker ließen sich nicht beruhigen. Numik würde zu Blauberger rennen und
ihn um eine Stellungnahme angehen, und Blauberger, der ewige Leipziger
Werktagsphilosoph, würde seine Stirn in Falten legen und seine Rede mit der
herkömmlichen Einleitung beginnen: »Nu soch ich Ihnen mol was, und das muß wohr
sein...«
Ronald sah sie alle vor sich,
jeden einzelnen seiner Angestellten und auch die Arbeiter. Ein jähes Heimweh
ergriff ihn. Zum Teufel noch einmal, warum sollte er eigentlich nicht morgen
früh, Punkt acht Uhr, mit seinen Leuten zusammen einen normalen Arbeitstag
beginnen, anstatt in einem fremden Hotelbett zu liegen und sich zu langweilen.
Ein großes Kinoplakat, an dem er vorbeifuhr, kündigte einen Wildwestfilm an,
bei dem außer ein paar leeren Patronenhülsen garantiert nichts übrig blieb,
denn die Stars schossen sich gegenseitig von ihren Pferden herunter, zwei
Frauen flüchteten schreiend in die Prärie, und die Prärie brannte. Ins Kino
gehen? Schrecklicher Gedanke. Ronald schauderte, und er fuhr weiter.
Dämmerschoppen irgendwo? Nein, zu trübselig so allein. Die Bäume der Anlage, an
der er vorbeifuhr, streckten ihm ihre regennassen Äste entgegen. Aufhängen?
Darüber ließe sich reden. Hilfsbereite Bäume!
Er steckte sich eine Zigarette
an und starrte auf den Tachometer. Nicht über 50, mein Herr, die Polizei dürfte
wenig Verständnis für seelische Konfusionen zeigen, sie kennt nur ihre Verkehrsbestimmungen.
Im Hotel ging er geradewegs auf
den Portier zu. Sein Entschluß war vor wenigen Sekunden gefallen. »Ich möchte
meine Rechnung haben, ich fahre heute noch ab.«
Der Portier überlegte einen
Augenblick, wie er das Zimmer, das Ronald heute morgen bezogen hatte, berechnen
solle. Er machte einen Vorschlag, und Ronald nickte abwesend. Er bezahlte und
ging zum Aufzug.
Eine halbe Stunde später befand
er sich auf der Autobahn Stuttgart. Er würde die Nacht durchfahren. Jetzt war
es sechs Uhr abends. Wenn er ein bißchen draufdrückte, konnte er mit
Leichtigkeit um drei Uhr morgens in Paris sein. Wie hatte er nur einen Moment
daran zweifeln können, daß er dorthin mußte!
»Was tut man um drei Uhr
morgens in Paris?« fragte er Jacky.
Jacky war nicht ansprechbar. Er
biberte, denn er war vom Geschwindigkeitsrausch ergriffen. Der Tachometer stieg
eben auf hundertfünfzig.
8
In einem Haus der Rue
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