Mann mit Anhang
Bargue
wurden die eisernen Fensterläden zurückgeklappt. Der Lärm der Straße brandete
gegen die Wände der grauen Häuser. Die Rue Bargue war nicht häßlicher, nicht
enger und nicht lauter als tausend andere Pariser Straßen. Wenn unten ein
Lastwagen vorbeifuhr, vibrierte der Fußboden im vierten Stock, und da die Reihe
der rumpelnden Lastwagen in Paris niemals abreißt, vibrierte er immer.
Das Zimmer, in dem Jeannette
die Fensterläden geöffnet hatte, war von einer schlampigen, kunstseidenen
Eleganz. Talmi. Die goldgerahmten, süßlichen Bilder an den lila tapezierten
Wänden und die mit speckig gewordenem rosa Stoff bezogenen Sessel hätten
wunderbare Requisiten für ein Strindbergsches Drama abgegeben. Jeannette spürte
die nieselnde, benzingetränkte Pariser Morgenluft und wandte sich entschlossen
um. »Willst du nicht aufstehen?« Sie blieb vor dem breiten französischen Bett
stehen. Die Gitterstäbe aus Messing waren schon lange nicht mehr geputzt
worden.
Sheila, das Gesicht in die
zerwühlten, spitzenbesetzten Kopfkissen gedrückt, blieb bewegungslos. Jeannette
berührte ihre schmale, helle Schulter. Zimmerfarbe. Das Mädchen hatte den
ganzen Sommer in Paris herumgelungert, anstatt sich am Meer oder irgendwo in
den Bergen braunbrennen zu lassen. »Komm, Sheila.« Sie warf einen skeptischen
Blick in die Ecke, wo auf einem wackeligen Tisch der Benzinkocher aus Blech und
die ordinären, angeschlagenen Tassen und Teller standen. »Ich glaube, wir
schenken uns das Frühstück hier. Es ist auch schon bald Lunchzeit.«
Sheila machte eine schroffe
Bewegung. Sie hielt das Gesicht jetzt zur Decke gewandt, ein sehr blasses
Gesicht, von einer Flut wirren, dunklen Haares umrahmt. »Was hast du mit Yvonne
gemacht?« fragte sie schroff.
»Ich habe sie hinausgeworfen,
gestern, als ich ankam und sie allein hier antraf.«
»Du hattest kein Recht dazu.«
»Hinausgeworfen ist nicht der
richtige Ausdruck«, verbesserte sich Jeannette. Sie ging im Zimmer auf und ab
und begann ein paar Dinge zu ordnen. »Ich habe sie durch Geld dazu ermuntert zu
gehen.«
Sheila richtete sich ruckartig
im Bett auf. Ihre Augen funkelten vor Zorn. »Was für widerwärtige, verstaubte
Methoden ihr Alten habt.«
Bei dem Wort >Altem zog
Jeannette die Schultern ein wenig hoch. Sie wußte, daß Sheila sie mit diesem
Wort hatte verletzen wollen. Armes Kind, wie durchgedreht mußte sie sein. Sie
sagte: »Ich finde die Methode gar nicht verstaubt. Gerade ihr Jungen schätzt
doch das Geld so hoch ein. Auch Yvonne. Wir waren sehr bald einig, und es ließ
sich recht vernünftig mit ihr verhandeln.«
Sheila starrte die Mutter düster
an. »Sie hat sich ihre Freundschaft mit Geld abkaufen lassen? Das ist nicht
wahr.« — »Leider doch, ich kann es nicht ändern!«
Jeannette steckte eine
Zigarette für sich und eine zweite für Sheila an. Sie reichte sie ihr und
wartete, bis Sheila den ersten Zug getan hatte. »Was fandest du eigentlich an
ihr?«
»Sie war immer für mich da.
Immer!«
»Ich bin auch immer für dich
da. Du mußt nur die Hand ausstrecken, und ich bin da«, entgegnete Jeannette.
Sheila maß sie mit
besserwissenden Augen, und Jeannette machte eine unmutige Bewegung, als müsse
sie sich gegen diesen Blick zur Wehr setzen. »Es stimmt, ich bin weit weg. Aber
du bist ja in der ganzen Welt zu Hause. Warum kommst du nicht und lebst mal
eine Weile mit mir?«
»Weil ich Henry nicht leiden
kann«, sagte Sheila leidenschaftlich. »Und weil ich Bondy auch nicht leiden
konnte. Weil ich nie wußte, wohin und zu wem ich gehöre, weil ihr, mein Vater
und du, auseinandergelaufen seid und man mir in einem Alter, wo man Kindern
sonst Märchen vorliest, schon Gerichtsentscheidungen vorlas«, stieß sie
haßerfüllt hervor. »Nun weißt du, warum ich Yvonne brauchte.«
Sie setzte die Füße auf den
Boden. In ihrem hochgeschlossenen Batistnachthemd sah sie wie ein erschreckend
mageres, sehr verlorenes Kind aus. »Ich bin mündig, ich kann tun und lassen,
was ich will. Man hat mich mit einer halben Million für das, was andere Kinder
ihr Elternhaus nennen, abgefunden. Nun laßt mich auch in Frieden.«
Jeannette hätte den eckigen,
kleinen Mädchenkörper gern in ihre Arme genommen, aber sie fürchtete den
Widerstand. Sie hatte dieses Kind geboren und ihm von der ersten Sekunde an
Unrecht zugefügt, denn sie hatte es freudlos geboren, nur immer zurückschauend
auf ihre zerschlagene Liebe, enttäuscht, hart. Kein Wunder, daß Sheila so
geworden
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