Mann mit Anhang
kam zu dem Ergebnis, daß Jeannette zum
neuralgischen Punkt bei ihm wurde. War ein Besuch beim Psychiater fällig?
»Legen Sie sich mal flach hin, mein lieber Herr Gutting, atmen Sie tief, entspannen
Sie sich, und nun erzählen Sie mir mal schön, was Sie als kleiner Junge immer
geträumt haben...< Reif für den Klapsdoktor, schöne Bescherung!
Heute ist Montag, der 23.
September, ich stehe in der Avenue Haussmann, rauche eine Orientzigarette, muß
am dreißigsten wieder im Geschirr sein, freue mich auf meine Tochter und auf
meinen Schwiegersohn, auf mein Haus, meinen Garten und sogar auf die Muhr, ich
habe kein Recht, verrückt zu spielen, ich bin ein Mann mit Grundsätzen und
einer gesunden Moral, murmelte er vor sich hin. Und dann, etwas lauter: »Jacky,
wenn du das Bein an jedem dritten Baum, anstatt an jedem zweiten heben würdest,
kämen wir bedeutend schneller vorwärts.«
In Paris dreht sich niemand um,
weder nach indischen Maharadschas noch nach muschelgeschmückten Negerfürsten,
Zwergen, Riesen oder nach laut vor sich hin sprechenden Übergeschnappten. »Ich
werde irgendeine Frau heiraten, die nächstbeste, die meine seelische und
biologische Unpäßlichkeit kuriert. Und wenn es die Muhr wäre. Warum nicht die
Muhr als Lebenspartnerin?«
An diesem Mittag stieß Gutting
auf eine kleine jugoslawische Hühnerbraterei. Ihr Duft wehte auf die Straße und
erfüllte Ronald seit vielen Tagen zum erstenmal wieder mit einem kräftigen
Hungergefühl. Jacky war entzückt von diesem Lokal, sein Bart vibrierte vor
Wonne, denn die Hühnerknochen waren so zart und knusprig und butterweich, wie
er sie nie zuvor gekostet hatte.
Nach dieser Mahlzeit, die
Ronald noch mit einem Glas Portwein abgerundet hatte, schlenderte er zum
Operncafé hinüber, setzte sich an einen leeren Tisch und schrieb Postkarten.
Ansichtspostkarten aus Paris! Er haßte Ansichtspostkarten, aber sie paßten zu
seiner kitschigen Gemütsverfassung. Die erste Karte richtete er an das Mädchen
vom Flugplatz. Er zog die Lippen nachdenklich zwischen die Zähne, während er
die Adresse schrieb: »Fräulein Angelika Kurz, Säuglingsschwester,
München-Harlaching...«
Angelika! Ein schöner Name.
Sicher besaß Angelika auch ein schönes Herz. Ronald versuchte, sich ihr Gesicht
vorzustellen, aber er hätte nicht einmal mehr zu sagen vermocht, ob das Mädchen
eine kurze oder lange Nase und eine hohe oder niedere Stirn besaß. Während er
seine Erinnerungen durchging wie einen überbelichteten Filmstreifen, den man
gegen das Licht hält, schrieb er die freundlichen Worte: »Tch denke gern an Sie
zurück als meinen rettenden Engel. — Paris ist eine Stadt mit viel Sonne und
viel Schönheit und einer sehr reizvollen Häßlichkeit in ihren entlegenen
Winkeln. Wenn ich wieder in München bin, werde ich Sie bestimmt anrufen, und
dann sehen wir weiter.«
Die Hand glitt lautlos über die
glatte Fläche der Ansichtskarte. Zeitungsverkäufer zwängten sich an den Tischen
vorbei und schrien den Paris Soir und den Figaro aus. Die Bremsen
eines schwarzen, uralten Citroen quietschten empört auf, als ein radfahrender
Junge unbekümmert vor dem Kühler des Wagens nach links abschwenkte. Hübsche
Frauen mit modischen Kostümen, pastellfarbenen Gesichtern und routinierten
Augen, die aus den Winkeln heraus die Männer und Chancen, die sie versprachen,
haarscharf eintaxierten, kamen vorbei. Sie hatten einen wiegenden Gang und
bewegliche Hüften. Ronald stellte sie sich in seinem blauen Straßenkreuzer vor
und komplimentierte eine nach der anderen wieder hinaus, um den Platz an seiner
Seite für Jeannette frei zu machen, für Jeannette, die sich den Fünfzig
näherte.
An einem Samstag nahm er
Abschied von Paris, Abschied von seinem Urlaub, Abschied von vielem. Montag
würde er wieder den starken Mann der Gutting Kosmetik KG spielen, täglich acht
Stunden drei Dutzend Arbeiter, sechs Angestellte, eine Sekretärin und zwei
Telefone beschäftigen und wieder mal einen Sommer hinter sich haben. Den
sechsundvierzigsten! Er fuhr mit Jacky durch den Bois de Boulogne. In einer
Pferdekutsche. Gelassen und mit einer freundlichen Anteilnahme lehnte er in den
brüchigen Lederpolstern. Beschaulich, angenehm, keine Hast, keine Pflichten,
keinen Kummer mit Frauen. Gut fürs Herz, gut für die Galle. Eine schöne
Spazierfahrt, ein schöner Septembernachmittag für einen ruhebedürftigen Herrn
mit seinem Hund.
Jacky vibrierte. Wann machen
wir endlich Schluß mit diesem Theater? Wann
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