Mann mit Anhang
Altersheim. Er blickte durch das Fenster seines
Büros. Grauer Himmel, ein Stück graue Hauswand, ein Stück graues Pflaster, ein
Stück Leben, ebenfalls grau.
An diesem nieseligen
Novembertag hatte Uckermann ein längeres Gespräch mit Gutting. Er hatte sich
mit ihm in den Waliser Stuben zum Essen getroffen. Ronald begrüßte jede Gelegenheit,
von zu Hause wegzukommen, denn ihm graute vor den einsamen Abenden. Dieses
Warten, ob die Kinder von oben gnädigst herunterkämen, um dem alternden,
selbstlosen Papa ein Stündchen ihres Lebens zu widmen, machte ihn ganz elend.
Ein entwürdigender Zustand!
Uckermann war schon da, als
Ronald das Lokal betrat. Er saß allein an einem Tisch mit vier Plätzen. Sein
knurriges Gesicht erhellte sich. Ronald kannte diese bärbeißige Miene, die
Uckermann >Lokalvisage< nannte. Mit Hilfe dieser wenig einladenden Visage
erreichte er es fast ausnahmslos, daß er an seinem Tisch unbehelligt blieb. Die
Menschen scheuten sich davor, sich mit so einem Ekel an einen Tisch zu setzen.
Sie fürchteten wahrscheinlich, daß ihnen bei diesem säuerlichen Tischpartner
das Essen in der Kehle steckenbleiben würde.
Uckermann zog einen Brief aus
der Tasche und legte ihn vor Ronald auf den Tisch. »Lies«, sagte er kurz
angebunden.
Der Brief war auf einem
bläulichen, festen Briefpapier geschrieben, mit einer eckigen, halbfertigen
Schrift. Ronald stutzte. Ein Brief von Jeannette? So hatte ihre Schrift vor
vielen, vielen Jahren ausgesehen. »Der Brief ist ja an mich gerichtet«, sagte
er unsicher.
Uckermann nickte. »Genau.«
»Wie kommst du dazu?«
»An dich gerichtet. An mich
adressiert. Lies zuerst das Datum, sonst wirst du aus der ganzen Sache nicht
klug.«
Ronald las das Datum dreimal,
ehe er begriff, daß der Brief in dem Monat geschrieben war, in dem Jeannette
und er sich getrennt hatten. »Mutet mich fast an wie ein Brief aus der
Ewigkeit«, sagte er rauh.
»Ist es aber nicht, gottlob.
Die Schreiberin scheint sich in bester Form zu befinden.« Ronald wollte eine
Frage stellen, aber Uckermann fuhr mit einer ungeduldigen Geste seiner breiten,
knochigen Hand dazwischen. »Frag nicht so viel, lies erst.«
Der Ober kam und wollte die
Bestellung aufnehmen, die Stimmen der Gäste und das diskrete Klappern der
Bestecke erfüllten den Raum, und darüber schwebte das helle, etwas hysterische
Lachen einer Frau. Aber Ronald hörte das alles nicht, er war ganz allein mit
diesem Stück Papier und der eckigen, schon etwas verblaßten Schrift,
zurückgestürzt in die Vergangenheit, ein Narr, der wieder dreiundzwanzig Jahre
alt war.
Er las: »Roni, mein
abtrünniger Geliebter! Vor drei Wochen sagten wir uns adieu. Du wünschtest mir
eine glückliche Reise, und ich wünschte uns beiden den Tod. Aber mein Schiff
nach Amerika ging nicht unter, und Du bist am Traualtar nicht leblos
zusammengebrochen. Heute, wo der erste Sturm ohnmächtiger Auflehnung vorüber
ist, gibt es Augenblicke, in denen ich etwas ruhiger über Deine Handlungsweise
denken kann, vielleicht auch gerechter. Paul Uckermann, dieser egoistische,
eigenwillige und rücksichtslose Mann, hat Dich in dieses abenteuerliche
Ehrenrettungsmanöver hineingehetzt. Eine höchst praktische Methode, seine
eigenen Sünden wiedergutzumachen. Wirklich großartig! Genau an dem Punkt, wo er
selbst im Leben versagt hat, mußtest Du die Kastanien aus dem Feuer holen.
Sicher bist Du ein Ehrenmann, Roni, aber ich will Dich nicht als einen
Ehrenmann bewundern können, sondern wollte Dich als einen Mann lieben. Und will
es noch und werde vielleicht mein ganzes Leben darum zu leiden haben.
Ich glaube nicht, daß ich
diesen Brief je abschicke. Wenn es jedoch geschieht, dann zu einer Zeit, in der
ich Dir nicht mehr böse bin. Jeannette.«
Ronald wußte nicht, was er von
diesem Brief halten sollte, noch wie er in Uckermanns Hände gekommen war. Er
blickte ihn fragend an.
Uckermann zog einen zweiten
Bogen aus der Tasche, ebenfalls einen Brief von Jeannette, aber in ihrer
heutigen Schrift geschrieben. Er trug das Datum ihres Abfluges von München nach
Paris.
»Sehr geehrter Herr Uckermann!
Mit schwer definierbaren Gefühlen vernahm ich, daß Sie sich nach wie vor bester
Gesundheit erfreuen und sich immer noch als ein rüstiger, tatkräftiger Freund
der Familie Gutting erweisen. Dieser Brief an Ronald, den ich seit mehr als
zwei Jahrzehnten mit mir herumschleppe, ist nun — wie ich glaube — absendereif. Ich lege ihn
in Ihre Hände mit der Bitte, ihn wie ein
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